Chronik
Schulenburgring 2 – Ein Haus, das Weltgeschichte erlebte / Beitrag 1
In der Nacht zum 1. Mai 1945 um 3.55 Uhr wurde der General der Infanterie und letzte Chef des Generalstabes des deutschen Heeres Krebs zum Schulenburgring gebracht. Nach dem Selbstmord Adolf Hitlers am 30. April sollte Krebs im Auftrag des Reichskanzlers Goebbels und des Kanzleisekretärs der NSDAP Bormann einen Waffenstillstand mit Tschuikow aushandeln. Zur Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation war Krebs nach insgesamt neunstündigem Aufenthalt im Schulenburgring nicht befugt und persönlich auch nicht bereit. Telefonische Rückfragen über eine eigens zu diesem Zweck von der Paterrewohnung zur Reichskanzlei gelegte Telefonleitung blieben erfolglos. Die Strategie der Nachfolger Hitlers lief darauf hinaus, die Antihitlerkoalition zu entzweien. Während Krebs in Tempelhof auf Unterzeichnung eines Waffenstillstandes beharrte, versuchten Göring und Himmler Kontakt zu den westlichen Verbündeten der Koalition aufzunehmen. Dieser Versuch misslang. Die Alliierten bestanden entsprechend ihren Beschlüssen von Teheran und Jalta auf der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation. So dauerte der Kampf um Berlin noch etwa 24 Stunden an und forderte weitere Opfer.
Am späten Vormittag des 2. Mai erreichte General Weidling, Kommandeur des 56. Panzerkorps und letzter Befehlshaber des Verteidigungsbereichs Berlin, den Schulenburgring. In der Erdgeschosswohnung von Frau Anni Goebels, geb. Werner, unterzeichnete er den Kapitulationsbefehl an die Soldaten der Berliner Garnison. Der Wortlaut des Befehls ist unter dem Link „Dokumente“ gesondert ausgewiesen. Nach der Entgegennahme dieser Urkunde, die heute im Moskauer Armeemuseum ausgestellt ist, wurden die Kampfhandlungen eingestellt. Für Berlin war damit der 2. Weltkrieg beendet. Sechs Tage später wurde in Berlin-Karlshorst die Kapitulation für ganz Deutschland unterzeichnet.
Der russische Dichter und Schriftsteller Jewgeni Dolmatowski fertigte im Mai 1945 das Protokoll der Unterredungen im Schulenburgring an. Als Kriegsberichterstatter hatte er den Weg der Roten Armee von Moskau bis nach Berlin begleitet. Bekannt wurde Dolmatowski vor allem durch das Foto von Jewgeni Chaldej. Es zeigt ihn mit der Hitlerbüste unter dem Arm vor dem Reichstag. Anlässlich seines Besuches bei Anni Goebels im April 1975 schrieb Dolmatowski die Reportage „Im letzten Kommandostand“. Sie ist in deutschen Übersetzung in einer von Hausbewohnern erstellten Broschüre dokumentiert.
Eine weitere wichtige Quelle zu den Ereignissen sind die Aussagen und Veröffentlichungen von Prof. Dr. Stefan Doernberg. Prof. Doernberg emigrierte mit seinen jüdischen Eltern 1935 in die Sowjetunion und kam als Leutnant der Roten Armee zurück in seine Heimatstadt Berlin. Im Schulenburgring tippte er den Kapitulationsbefehl.
Im Mai 1980 erschien die erste Ausgabe der Hausbroschüre. Die gesammelten Dokumente wurden den Berliner Medien sowie den Parteien und interessierten Organisationen zugestellt.
Viele Menschen haben seit der ersten Veröffentlichung das Haus besucht. Seit dem 2. Mai 2008 schmückt eine neu gestaltete Haustafel den Eingangsbereich. Insbesondere Jugendliche informieren sich über die geschichtlichen Ereignisse. Der Landesjugendring hat das Haus in sein Stadtrundfahrtenprogramm aufgenommen. Die Arbeitsgemeinschaft Jugend in Mariendorf und die Jugendförderung des Bezirksamtes Tempelhof besuchten das Haus mit ihren Seminargruppen. Darüber hinaus konnten die Bewohner des Hauses Gäste aus der Sowjetunion, den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Polen, Italien, Griechenland, Dänemark und Israel begrüßen.
Gemeinsam mit dem Stadtrat für Volksbildung im Bezirk Tempelhof wurde eine Sonderausstellung im Heimatmuseum organisiert. Der Eichentisch, an dem die Berliner Kapitulation unterzeichnet wurde, wanderte durch verschiedene Berliner Museen und befand sich lange Zeit als Leihgabe im Heimatmuseum Tempelhof. Seit dem Frühjahr 2010 steht er im Saal der Judas Thaddäus Gemeinde in Neutempelhof. Frau Goebels hatte den Tisch nach Kriegsende der Gemeinde geschenkt.
Am 4. Mai 1982 empfingen Mieter des Hauses den Botschafter der UdSSR in der DDR und alliierten Kommissar für Berlin Pjotr Abrassimow. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Aktion Sühnezeichen/ Friedensdienste Altbischof Kurt Scharf informierte er sich über die historischen Ereignisse. Eine Einladung nach Wolgograd wurde ausgesprochen. Der Tempelhofer Bürger Wolfgang Szepansky überreichte Abrassimow einen Linolschnitt, den er während seines Aufenthaltes im Konzentrationslager Sachsenhausen angefertigt hatte. Während der Funkausstellung übertrug das ZDF am 1. September 1983 eine Live-Sendung zum Antikriegstag direkt aus dem Kapitulationszimmer.
Im Frühjahr 1980 besuchte erstmals eine Tanz- und Gesangsgruppe aus Usbekistan die Hausgemeinschaft. Es folgten Begegnungen mit Gruppen aus Belorussland, Aserbaidschan, Estland und Sibirien.
Frau Anni Goebels, die im Jahre 1978 verstorbene Hauseigentümerin und Bewohnerin der Verhandlungsräume im Hochpaterre, hat sich an die letzten Kriegstage und das Eintreffen der Sowjetarmee stets in Dankbarkeit erinnert. Welcher Art ihre Empfindungen waren geht auch aus einem Brief hervor, den die Botschaft der UdSSR aus dem Nachlass Wassili Tschuikows überbrachte. Der Glückwunsch wurde von Anni Goebels an Marschall Tschuikow zu dessen 75. Geburtstag im Februar 1975 geschrieben. Dort heißt es:
“Sehr geehrter Herr Tschuikow, ich grüße Sie aus dem Haus Schulenburgring 2, wo Sie vor 30 Jahren einige Tage wohnten, um die Kapitulation der Berliner Garnison entgegenzunehmen. Wir waren froh, dass der Frieden kam.....Ich habe gehört, dass Sie den 75. Geburtstag feierten und gratuliere Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen noch gesunde und zufriedene Jahre. Ich wünsche, dass die Freundschaft zwischen Deutschland und der UdSSR sich weiterhin festigt und in Berlin Ruhe und Frieden bleibt.“
Die hier nur kurz erwähnten Ereignisse sind umfangreicher dargestellt in der von den Hausbewohnern Martin Gaa, Jürgen Müller und von Joachim Dillinger aktualisierten Fassung der Broschüre „Schulenburgring 2“. Diese Broschüre enthält alle bereits durch Frau Goebels gesammelten Zeitungsartikel sowie Fotos und Berichte aus jüngerer Zeit. Ferner werden dort die Ereignisse aus amerikanischen, sowjetischen und verschiedenen deutschen Quellen vorgestellt.
Am 6. Juni 2004 wurden vor dem Haus drei Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an die Hausbewohner Arthur, Rosa und Carl Grunwald. Die Familie wurde ohne Wiederkehr in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald deportiert.
Zum 65. Jahrestag des Kriegsendes wird in der Gemeinde Judas Thaddäus eine öffentliche Veranstaltung am 28.April vorbereitet und für den 2. Mai 2010 ist ein Hausfest geplant.
Berlin im März 2010 Joachim Dillinger