Genfer Schule (Literaturwissenschaft)
Als Genfer Schule (französisch: École de Genève) bezeichnet man eine Gruppe von romanistischen Literaturwissenschaftlern, von denen einige institutionell mit der Universität Genf verbunden waren und deren wissenschaftliche Arbeiten von verwandten, wenn auch nicht identischen literaturtheoretischen Überzeugungen geprägt sind. Im engeren Sinn zählen zur Genfer Schule Marcel Raymond, Albert Béguin, Georges Poulet, Jean Rousset, Jean Starobinski und Jean-Pierre Richard. Die Gruppe hatte vor allem zwischen 1950 und 1970 einen grossen Einfluss auf die internationale Literaturwissenschaft.[1]
Name
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Bezeichnung «Genfer Schule» wurde von Georges Poulet lanciert[2] und in der Folge von Historikern der Literaturwissenschaft in methodologischen Darstellungen aufgegriffen und so verbreitet.[3] Die Gruppe selbst hat diese Bezeichnung jedoch abgelehnt, da der Ausdruck «Schule» eine einheitliche Lehrmeinung und ein gemeinsames verbindliches Programm voraussetzt, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Es existiert daher auch kein theoretisches Standardwerk oder Lehrbuch, das die Überzeugungen der Gruppe festhalten würde. Poulet selbst hat die Benennung später als falsch bezeichnet.[4] Die einzelnen Mitglieder der Gruppe selbst sahen ihre Zusammengehörigkeit vor allem in den freundschaftlichen Beziehungen unter den einzelnen Wissenschaftlern begründet, die sich auch ins Private erstreckten, und in einer gewissen Geistesverwandtschaft, die jedoch auch grundsätzliche theoretische und methodische Differenzen nicht ausschloss, wie der Briefwechsel zwischen Raymond und Poulet dokumentiert. Aus wissenschaftssoziologischer Sicht ist es sicher angebracht, zumindest von einer «Gruppe» zu sprechen. Davon zeugen die Praxis des gegenseitigen Rezensierens und Kommentierens von Publikationen, die gegenseitigen Vorworte zu Publikationen, gemeinsam besuchte oder organisierte Tagungen und Diskussionskreise sowie die zum Teil ausgedehnte briefliche Korrespondenz zwischen einzelnen Mitgliedern. Das Attribut «Genfer» in der Bezeichnung «Genfer Schule» verweist einerseits auf die institutionelle Bindung an die Universität Genf, die ausser Poulet und Richard alle Mitglieder der Gruppe aufweisen, andererseits auf die Differenzen zu der in jener Zeit in Frankreich, und vor allem in Paris, vertretenen Auffassung von Literaturwissenschaft, die noch stark positivistisch orientiert war.[5]
Geschichte und Personen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die «Genfer Schule» wurde nicht im eigentlichen Sinn «gegründet». Der intellektuelle Austausch und die persönliche Wertschätzung entstand vielmehr durch die an der Universität geknüpften Kontakte. Raymond und Béguin, die gleichsam die erste Generation der Genfer Schule bildeten, haben gleichzeitig in Genf studiert. Rousset und Starobinski haben beide später bei Raymond studiert. Poulet freundete sich mit Raymond und Starobinski an. Mit letzterem unterrichtete er gemeinsam an der Johns Hopkins University in Baltimore. Raymond unterstützte später aktiv die Berufung Poulets an die Universität Zürich.[6] Richard war mit Poulet befreundet und stand in regem Briefaustausch mit diesem und mit Starobinski.[7]
Literaturwissenschaftliche Überzeugungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Mit der Genfer Schule werden insbesondere zwei grundlegende Theoreme in Verbindung gebracht:
1. Das Primat des literarischen Textes gegenüber allen vorgängigen Modellen und Allgemeinbegriffen literaturgeschichtlicher, geistesgeschichtlicher, soziologischer oder psychologischer Art
2. Die Überzeugung, dass ein literarischer Text die spezifische Weltwahrnehmung seines Autors artikuliere, die der Literaturwissenschaftler mittels Einfühlung zu rekonstruieren versuche (sog. «critique de la conscience» oder «critique thématique»)
Ausserdem zeichnen sich die Arbeiten der Genfer Schule durch eine essayistische, literarische Darstellungsweise aus («critique littéraire» anstatt «science de la littérature»). Dazu gehört die Überzeugung, dass der Anteil des lesenden Subjekts an der Interpretation eines Werks nicht hintergehbar ist, was die Genfer Schule auch vom Strukturalismus unterscheidet.[8] Einige Mitglieder der Gruppe – zum Beispiel Marcel Raymond – waren auch selbst als Schriftsteller oder literarische Übersetzer tätig.
Vorläufer und Anreger
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Von der Gruppe selbst als Vorläufer bezeichnet wurde Albert Thibaudet, der von 1924 bis 1936 Professor in Genf und als solcher auch Lehrer von Raymond, Béguin und Rousset war. Es finden sich auch Bezüge zu Jacques Rivière und Charles Du Bos, die beide wie Thibaudet Autoren bei der Nouvelle Revue Française waren. Eine wichtige Inspiration stellt auch das Werk von Gaston Bachelard dar, der sich wie die Gruppe selbst für das Imaginäre, die spezifische Weltwahrnehmung der Schriftsteller, interessierte. Als Anreger darf auch Leo Spitzer gelten. Zur französischen Ausgabe von dessen Werk „Etudes de styles“ schrieb Starobinski das Vorwort. Für Poulet und die zweite Generation der Genfer Schule war die Phänomenologie Edmund Husserls und Maurice Merleau-Pontys wichtig.[9]
Weggefährten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Mediävist Roger Dragonetti unterrichtete ab 1968 an der Universität Genf und stand im engen Austausch mit Rousset und Starobinski. Der Renaissance-Spezialist Michel Jeanneret unterrichtete ab 1969 in Genf, vertrat wie seine Kollegen die Ansicht, dass der persönliche Bezug zum Werk für die Interpretation von entscheidender Bedeutung sei, und wurde oft selbst als Mitglied der Gruppe wahrgenommen. Der Germanist und Komparatist Bernhard Böschenstein, von 1964 bis 1998 Professor in Genf, unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu allen Mitgliedern der Gruppe, teilte mit ihnen die methodische Prämisse der Textnähe und bezog sich, insbesondere in seinen Studien zu Rousseau, auf deren Arbeiten. Auch er wird manchmal selbst der Genfer Schule zugerechnet.[10] Auch Roland Barthes stand der Gruppe zumindest zeitweise nahe und unterrichtete 1971 gar während eines Semesters als Gastprofessor in Genf. Michel Butor, der 1975 als Professor für französische Literatur nach Genf berufen wurde, war der Gruppe freundschaftlich verbunden. In den USA fühlte sich J. Hillis Miller zeitweise der Genfer Schule nahe. Jean Starobinski nahm mehrmals an Tagungen der Gruppe Poetik und Hermeneutik in Konstanz teil.
Nachfolger
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Da die Genfer Schule über kein Programm, keine Doktrin und keine bestimmte Methode verfügte, kann man nicht von Nachfolgern im eigentlichen Sinne sprechen. Dennoch lässt sich eine Kontinuität innerhalb der Schweizer Romanistik und insbesondere an der Universität Genf beobachten.
Zum einen fühlten sich die Studenten und Doktoranden der Mitglieder der Genfer Schule, die später selbst auf Lehrstühle berufen wurden, dem Unterricht und dem Denkstil ihrer Lehrer verpflichtet:
- Lucien Dällenbach (* 1940), Schüler und direkter Nachfolger von Jean Rousset, Professor in Genf 1976–1993[11]
- Philippe Renaud (1940–2021), Doktorand von Marcel Raymond, Titularprofessor in Genf[12]
- Olivier Pot (* 1944), Schüler von Jean Starobinski, 1994–2009 Professor in Genf[13]
- John E. Jackson (* 1945), Schüler von Rousset und Starobinski, Professor in Bern (1985–2010)[14]
- Claude Reichler (* 1946), promovierte 1981 in Genf, ab 1994 Professor in Lausanne[15]
- André Wyss (1947–2018), Schüler von Starobinski, unterrichtete in Genf von 1971 bis 1987, dann Professor in Lausanne (1987–2011)[16]
- Jean Kaempfer (* 1950), Doktorand von Jean Rousset,[17] Professor in Lausanne
- Daniel Sangsue (* 1955), Student (bis 1979) und Assistent (1980–1986) in Genf, Professor in Neuenburg ab 1998
- Vincent Kaufmann (* 1955), Lizentiat (1979) und Doktorat (1984) in Genf, Assistent (1979–1984) und Assistenzprofessor (1986–1990) in Genf, Professor in St. Gallen ab 1996[18][19]
- Jacques Berchtold (* 1959), Student von Starobinski, Doktorand von Alain Grosrichard[20]
- Juan Rigoli (* 1959), studierte und war Assistent in Genf, Promotion 1999, von 2012 bis 2024 Professor in Genf, zu seiner Dissertation schrieb Starobinski das Vorwort[21]
Zum anderen beriefen sich auch Lehrstuhlinhaber, die nicht in Genf studiert hatten, auf die Mitglieder der Genfer Schule als prägende Einflüsse: Roger Francillon (1938–2019, Professor in Zürich),[22] Doris Jakubec (* 1939, Professorin in Lausanne),[23] Alain Faudemay (* 1950, Doktorand von Starobinski, Professor in Freiburg/Schweiz).[24]
Zum dritten haben sich an die Universität Genf berufene Professoren, die ihre Ausbildung anderswo erhalten hatten, mit den Repräsentanten der Genfer Schule angefreundet und auseinandergesetzt, Aufsätze über sie verfasst und gar Tagungen über sie organisiert: Michel Jeanneret (1940–2019), Professor in Genf 1971–2005, verfasste mehrere Aufsätze zur Genfer Schule; Alain Grosrichard (* 1941), Professor in Genf 1983–2006, übernahm das Lehrgebiet von Jean Starobinski und leitete mit ihm gemeinsam einen Studienkreis zum 18. Jahrhundert, 1992 war er Co-Organisator einer Tagung über die Genfer Schule;[25] Laurent Jenny (* 1950), Professor in Genf 1991–2015[26], zu seinem Buch La parole singulière schrieb Starobinski das Vorwort; Patrizia Lombardo (1950–2019), Professorin in Genf 1995–2015, gab einen Band der Zeitschrift Critique zu Starobinski heraus[27]; Martin Rueff (* 1968), Professor in Genf seit 2010, gab zwei Bände mit Schriften Starobinskis heraus und verfasste Essays über ihn.
Die Nachgeschichte der Genfer Schule wurde erstmals in Band 15/16 der Zeitschrift Quarto aufgearbeitet.[28]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Olivier Pot: Jalons pour une critique en mouvement (autour de l’école de Genève). In: La critique littéraire suisse. Autour de l’Ecole de Genève. In memoriam Jean Rousset. Œuvres & Critiques XXVII,2. Tübingen: Gunter Narr, 2002.
- Jean-Yves Tadié: La critique littéraire au XXe siècle. Belfond 1987.
- Caroline Torra-Mattenklott: Eintrag «Genfer Schule». In: Metzler Lexikon Ästhetik, hrsg. von Joachim Trebeß. Metzler, Stuttgart/Weimar 2006, S. 132.
- Marta Sábado Novau: L’école de Genève. Histoire, geste et imagination critique. Hermann, Paris 2021.
- Postérité de l’École de Genève. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 81–146.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Marta Sábado Novau: L'école de Genève. Histoire, geste et imagination critiques. Hermann, Paris 2021, S. 7.
- ↑ Olivier Pot: Jalons pour une critique en mouvement (autour de l’école de Genève). In: La critique littéraire suisse. Autour de l’Ecole de Genève. In memoriam Jean Rousset. Œuvres & Critiques XXVII,2. Tübingen: Gunter Narr, 2002, S. 7
- ↑ Siehe J.Hillis Miller: The Geneva School: The Criticism of Marcel Raymond, Albert Béguin, Georges Poulet, Jean Rousset, Jean-Pierre Richard, and Jean Starobinski, in: Critical Quarterly, no 8, 1966; Sarah Lawall: Critics of Consciousness: The Existential Structures of Literature, 1968
- ↑ Albert Béguin et Marcel Raymond. Colloque de Cartigny, sous la direction de Georges Poulet, Jean Rousset et al., Paris 1979, S. 257
- ↑ In der Bestreitung des von Gustave Lanson geprägten Positivismus (Lansonismus) sieht Vincent Kaufmann das Verbindende zwischen den Mitgliedern der Genfer Schule und deren historische Bedeutung. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 142.
- ↑ Olivier Pot, op.cit., S. 7
- ↑ Marta Sábado Novau: L’école de Genève. Histoire, geste et imagination critique. Hermann, Paris 2021.
- ↑ Michel Jeanneret hält fest: «Les critiques de l’École de Genève ne craignent pas de dire je.» (Die Literaturkritiker der Genfer Schule haben keine Angst davor, ich zu sagen.) In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 117.
- ↑ Caroline Torra-Mattenklott: Eintrag «Genfer Schule». In: Metzler Lexikon Ästhetik, hrsg. von Joachim Trebeß. Metzler, Stuttgart/Weimar 2006, S. 132.
- ↑ John E. Jackson: Essai. Collectif. Georges Poulet parmi nous. In: Le Temps. 15. Januar 2005, ISSN 1423-3967 (letemps.ch [abgerufen am 14. Februar 2024]).
- ↑ Prof. em. Dr. Lucien Dällenbach | ETH Zürich. Abgerufen am 14. Februar 2024.
- ↑ Éric Eigenmann: Pour Philippe Renaud. In: Le Temps. 20. April 2021, ISSN 1423-3967 (letemps.ch [abgerufen am 14. Februar 2024]).
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 118–121.
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 137–138.
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 125–128.
- ↑ Dictionnaire du Jura – Wyss, André (1947-2018). Abgerufen am 14. Februar 2024 (französisch).
- ↑ Jean Kaempfer in der Datenbank der Schweizer Eliten, Universität Lausanne, abgerufen am 23. April 2024.
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 142–143.
- ↑ Vincent Kaufmann. 13. April 2023 (unisg.ch [abgerufen am 1. Mai 2024]).
- ↑ Grand Salon: Rencontre avec Jacques Berchtold. In: La Gazette des Délices - N° 49. 2016, abgerufen am 14. Februar 2024 (französisch).
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 135–137.
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 140–142.
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 121–122.
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 134–135.
- ↑ L'Ecole de Genève. 8. Januar 2008, abgerufen am 14. Februar 2024 (französisch).
- ↑ Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 118.
- ↑ Critique n° 687-688 : Jean Starobinski. Abgerufen am 1. Mai 2024.
- ↑ Posterité de l'École de Genève. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 15/16. 2001. S. 81–146.