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ADB:Luther, Martin

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Artikel „Luther, Martin“ von Julius Köstlin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 660–692, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Luther,_Martin&oldid=- (Version vom 10. November 2024, 16:20 Uhr UTC)
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Luther: Martin L., der deutsche Reformator, geb. am 10. November 1483 in Eisleben, † ebendaselbst am 18. Februar 1546. Luthers Vater Hans gehörte einem Bauerngeschlechte Luder an, das, so lange man sich erinnerte, in dem kleinen Orte Möhra am Westabhange des Thüringer Waldes ansässig war. [661] Die erst später aufgekommene und neuerdings wieder vorgetragene Meinung, daß er ursprünglich adlig gewesen sei, und speciell, daß mit ihm ein gewisser Fabian L. von der Heede zur Zeit des Konstanzer Concils zusammengehängt habe, hat keinen geschichtlichen Grund. Die Schreibart Luther ist erst durch den Reformator für ihn und dann auch für seine Verwandten aufgekommen, nachdem auch er noch in seinen ersten Schriften sich Luder geschrieben hatte. Der Name ist ohne Zweifel ursprünglich mit dem Personennamen Lothar identisch. Luther’s Mutter war wahrscheinlich eine geborene Ziegler, deren Geschlecht in und bei Eisenach lebte. Hans L. mußte seinen Unterhalt im Bergbau suchen, der damals auch in Möhra betrieben wurde, weit mehr jedoch in der nicht fern gelegenen Grafschaft Mansfeld blühte. So ging er diesem Berufe weiterhin in Eisleben nach, wo ihm sein erstgeborner Sohn Martin geboren wurde und zog von da aus ein halbes Jahr nachher in die Stadt Mansfeld. Der Geburtstag Martins haftete seiner Mutter fest in der Erinnerung. Des Jahres seiner Geburt blieb sie, wie sie dem Melanchthon bekannte, nicht ganz sicher und L. selbst äußerte sich darüber in seinen späteren Jahren noch schwankend. Nach der in der Familie herrschenden und doch auch von L. festgehaltenen Ueberlieferung dürfen wir indessen sicher das Jahr 1483 annehmen.

In Mansfeld also wuchs der Knabe L. heran. Der Vater war eine gerade und derbe, energische und strenge Persönlichkeit, anfangs in dürftigen Umständen, welche den Eltern und Kindern das Leben herb machten, die Mutter eine sittsame Frau, die aber auch scharfe Zucht gegen die Kinder übte. Der kleine Martin wurde früh in die Schule gebracht und fand da einen harten und ungeschickten Lehrer. Seine Kinderzeit war, soweit er nachher Erinnerungen an sie aussprach, ernst und vielfach bitter.

Inzwischen besserte sich die ökonomische Lage des Vaters unter angestrengter Arbeit, auch erwarb er sich so viel Achtung, daß er unter die Mitglieder des städtischen Magistrates kam. Da suchte er für seinen Sohn eine bessere Schule in Magdeburg (im J. 1497). Wir haben jedoch von dieser keine nähere Kenntniß. Und schon im folgenden Jahr wurde Martin nach Eisenach versetzt, wo er einen tüchtigen Lehrer fürs Latein fand und mütterliche Verwandte traf. Indem er da mit anderen Schülern Currende sang, gewann er das Wohlgefallen der angesehenen Patrizierfrau Ursula Cotta und genoß Wohlthaten in ihrem gebildeten Hause.

In stolzem Vertrauen auf die tüchtigen Geistesgaben, welche er jetzt zeigte, ließ ihn sein Vater 1501 die Universität Erfurt beziehen und bestimmte ihn zum Juristen. Zunächst hatte er herkömmlicher Weise einen philosophischen Kurs durchzumachen. Derselbe führte ihn (nach Melanchthon’s Ausdruck) durch die spinöse Dialektik der späteren scholastischen Philosophie, die jedoch dort in Trutvetter und Arnoldi (von Usingen) maßvolle und gebildete Vertreter hatte. Zugleich lernte er alte lateinische Dichter kennen und unterhielt heiteren, geselligen Verkehr mit jungen „Poeten“, Jüngern des in Erfurt frisch aufblühenden Humanismus, die übrigens mit jenen scholastischen Meistern in ganz gutem Einvernehmen standen. Für ihn selbst blieb jene Philosophie der Hauptgegenstand des Studiums und Interesses. Er wurde darin 1502 Baccalaureus, zu Anfang des Jahres 1505 Magister. Darauf ging er zu den juristischen Vorlesungen über.

Aber mit schnellem und auch für seine nächsten Freunde überraschendem Entschluß und ohne Erlaubniß seines Vaters trat er am 17. Juli 1505 ins Erfurter Augustinerkloster ein. Er hatte es gelobt unter den Schrecken eines Gewitters, das ihn auf einer Rückreise von Mansfeld her nahe bei Erfurt überfallen hatte; erschreckt hatte ihn damals, nach Melanchthon’s Angabe, auch der plötzliche Tod eines Freundes. Es entschied sich aber hiermit in ihm, was längst [662] und schon von den ernsten Eindrücken seiner Kindheit her in der Stille durch tiefe religiöse Anfechtungen vorbereitet war. Er habe, sagte er selbst nachher, von Jugend auf keinen rechten Frieden finden können, weil ihm Gott immer nur als strenger Richter vor Augen gestanden und so auch in der kirchlichen Unterweisung und Erziehung vorgestellt worden sei; auch in Christus habe er nicht den Heiland, sondern nur den hochthronenden Herrn und Richter kennen gelernt. Er habe den heiligen Forderungen dieses Gottes nicht nachkommen können und vor seinem Zorn vergehen zu müssen gemeint. Da habe er endlich, wenn Gott ihm noch Zeit lasse, einmal fromm werden wollen, fromm durch die besonderen Leistungen und Selbstpeinigungen, vermöge deren einem das Mönchthum Heiligkeit und Seligkeit versprach. Daß bei Anfällen innerer Angst, die er empfand, auch krankhafte leibliche Zustände einwirkten, zeigt noch die Geschichte seines späteren Lebens; aber in ihrem tiefsten Grund war die Erregung eine sittlich-religiöse und L. bestand nachher darauf, daß jeder, der mit eigener Gerechtigkeit vor Gott bestehen wolle und dabei auf die Stimme des Gewissens höre, gleichartiges durchmachen müsse. Im Kloster studirte er dann auch mit großem Eifer Theologie nach den Schriften angesehener Theologen des späteren Mittelalters, empfing ferner 1507 die Priesterweihe. Sein Hauptstreben aber richtete sich fort und fort aus jene Reinheit und Heiligkeit, die er durch treues, strenges und kleinliches Treiben der mönchischen Uebungen zu erreichen sich bemühte; und darunter steigerten sich vielmehr die Anfechtungen, die Verzweiflung an der eigenen Seligkeit, die Skrupulosität, womit er aus kleinem und gleichgültigem sich schwere Sünden machte. Da hatte er es zuerst einem schlichten klösterlichen Beichtvater zu verdanken, daß er angewiesen wurde, vielmehr auf die Sündenvergebung von Seiten Gottes zu hoffen, von der ja das kirchliche Glaubensbekenntniß rede. Und den größten und heilsamsten Einfluß übte auf ihn der tieffromme und zugleich reichgebildete, milde und besonnene Ordensvicar Johann v. Staupitz, der für den tiefangeregten und ringenden jungen Mönch warme Theilnahme und bald herzliche Freundschaft zeigte, ihn vor den verderblichen Grübeleien; Speculationen und selbstgemachten Skrupeln warnte und ihn lehrte, zur Gnade und Liebe Gottes seine Zuflucht zu nehmen. Das wichtigste endlich wurde jetzt für ihn das eigene Studium der heiligen Schrift, indem er es in der Richtung, die hier sich ihm öffnete, selbständig weiter verfolgte.

Staupitz hielt ihn jetzt schon für geeignet, eine Professur an der neugegründeten Universität Wittenberg zu übernehmen, bei deren Einrichtung Kurfürst Friedrich vorzugsweise seines Rathes sich bediente. Auf seinen, als des Ordensvorstehers Ruf hin, trat L. im Winterhalbjahr 1508 dort ein. Er mußte zunächst philosophische Vorlesungen übernehmen, während er selbst von ihnen sich wegsehnte zu einer Theologie, welche den Kern der Nuß und das Mark der Knochen durchforsche. Sofort jedoch sollte er auch schon den ordentlichen Weg zum theologischen Lehramt einschlagen: er erlangte am Schluß jenes Halbjahrs den ersten hierher gehörigen Grad, nämlich den eines biblischen Baccalaureus und that im folgenden Sommer die nöthigen Schritte zur weiteren Stufe eines sogenannten Sententiarius, der über die sogenannten Sentenzen des Petrus Lombardus, das Hauptlehrbuch der scholastischen Theologie, zu lesen befugt war. Inzwischen traten uns unbekannte Umstände ein, um deren willen er zur Universität Erfurt zurückzukehren und dort gegen drei Semester zu verbleiben hatte. Das nächste, was wir von ihm wissen, ist, daß er in Angelegenheiten seines Ordens und zwar wol wegen Differenzen, welche zwischen dem Ordensvicar und gewissen deutschen Klöstern sich erhoben hatten, nach Rom gesandt wurde. Er machte die Reise im J. 1511 oder, wie Andere annehmen, schon im Herbst 1510. Während wir von den Verhandlungen, die er dort führte, und von ihrem Erfolg [663] nichts hören, legte er selbst später der Reise einen großen Werth für sich darum bei, weil er in der heiligen Stadt die ersten überraschenden Erfahrungen von der abscheulichen dort herrschenden Verderbniß gemacht habe. Unter den heiligen Uebungen, für welche Rom ihm besondere Gelegenheit bot, wurde zugleich die Stimme der aus dem Evangelium gewonnenen neuen Ueberzeugungen in ihm laut; als er auf der angeblichen vom Richthaus des Pilatus herstammenden heiligen Treppe sein Gebet verrichten wollte, fiel ihm, wie er selbst später seinen Schülern und Kindern erzählte, der Spruch ein: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben.“ Gegen das göttliche Recht des römischen Stuhles aber erregte ihm auch die dort eingerissene Verderbniß keine Zweifel.

Von Rom aus finden wir ihn nach Wittenberg zurückgekehrt. Die erste Angabe, die wir hier wieder über ihn erhalten, ist die von seiner theologischen Doctorpromotion am 18. und 19. October 1512, zu welcher wieder Staupitz, der Ordensvorstand, ihn bestimmte. Erst seither erfahren wir auch von theologischen Vorlesungen, die er gehalten hat. Von Anfang an strebte er in ihnen nach einer selbständigen, auf dem Worte der heiligen Schrift ruhenden Theologie. Er las nicht über scholastische Systeme, trug auch nichts in eigener, schulmäßiger systematischer Methode vor, sondern alle seine Vorlesungen waren Auslegungen biblischer, alt- und neutestamentlicher Bücher, und in der Auslegung richtete sich sein Bemühen überall darauf, die rechte Heilslehre ans Licht zu stellen, die er zunächst aus den Briefen des Apostel Paulus gewonnen hatte. Eine historisch-kritische Behandlung der Schrift blieb ihm dabei so fremd wie seinen Zeitgenossen. Auch aus der Willkür allegorischer Deutungen hat er nur allmählich sich losgerissen. Die älteste theologische Arbeit, die wir noch von ihm besitzen, sind lateinische Anmerkungen, die er zum Gebrauch für seine 1513–1516 gehaltenen Vorlesungen über die Psalmen in sein lateinisches Psalmbuch eingetragen hat, und sodann der Text der gehaltenen Vorlesungen, den er selbst schon zum Druck vorbereitete, der jedoch neuerdings erst veröffentlicht worden ist. Dabei trieb er jetzt eifrig das Studium Augustinischer Schriften, in welchen er jene Paulinische Theologie wie bei keinem anderen Kirchenvater oder Kirchenlehrer wiederfand. Schon unterschied sich übrigens, ohne daß er dessen gewahr wurde, sein eigenes Verständniß der apostolischen Lehre in wesentlicher Beziehung von dem des Augustin. Mit Augustin hielt er unbedingt daran fest, daß nur durch Gottes freie, wirksame Gnade der Mensch aus der Gewalt der Sünde erlöst, zum Glauben und Leben in Gott erweckt und zur Seligkeit bewahrt werden könne. Aber indem für ihn die Hauptfrage war, wie nun der Erlöste vor Gott bestehe oder die Vergebung der Schuld und Versöhnung mit Gott erlange, antwortete er hierauf schon jetzt mit dem Apostel, daß dies einfach durch den Glauben oder das Vertrauen zu Gottes Gnade und dem Heiland Christus geschehe, während Augustin hierfür die ganze dem Erlösten zu theil gewordene innere Rechtbeschaffenheit oder seine ihm selbst von Gott eingegossene Gerechtigkeit geltend machte. Ihm war auch im Stand der Gnade die ganze eigene Tugendhaftigkeit sammt ihren Früchten eine so unvollkommene und durch Sünden verunreinigte, daß fort und fort die Seligkeit eben nur jenem Glauben durch Gottes vergebende Gnade zu theil werden könne, und so auch fort und fort sicher sei, während nach Augustin der Christ durch Werke, welche er kraft der mitgetheilten Gnade vollbringe, eigenes Verdienst vor Gott sich erwerben kann und soll. Diese Differenz, welche oft auch von bedeutenderen Historikern übersehen worden ist, findet ebenso schon zwischen der Lehre Luther’s und Augustin’s, wie zwischen jener und der Auffassung der nachfolgenden katholischen Theologie und auch ihrer edelsten und tiefsten Vertreter statt. Aus dem Glauben aber, sofern ihm diese Bedeutung zukommt, erwuchs für L. auch die ihm eigenthümliche, unter allen [664] Anfechtungen behauptete kühne und feste Heilsgewißheit: und damit hing fernerhin die innere Freiheit und die Energie zusammen, womit er dann, anstatt in Weltflucht der Heiligkeit nachzujagen, auch die von Gott in dieser Welt gestellten Aufgaben und hier uns geschenkten Güter würdigte: eine Seite, die freilich erst später bei ihm, dem Reformator, hervortrat.

Noch ein neues wichtiges Gährungselement kam in Luther’s Theologie und Religiosität seit dem Jahre 1516 durch mittelalterliche deutsche Mystik. Er wurde da mit den Predigten Tauler’s und ferner mit jenem Tractate bekannt, welchen wir die deutsche Theologie zu nennen pflegen. Er selbst gab von diesem 1516 ein Stück und 1518 das Ganze (mit dem Titel „Ein deutsch Theologia“) heraus. Gewaltig ergriffen, fesselten und durchdrangen ihn die hier ausgesprochenen Sätze über ein Einswerden der Seele mit Gott und die Mahnungen, ganz auf alles eigene, auf den eigenen Willen wie auf die eigene Gerechtigkeit zu verzichten, ja ganz zu einem Nichts zu werden, um so zur Seligkeit in Gott zu gelangen. Aber im Unterschied von einer Mystik, welche im Verhältniß des Menschen zu Gott wesentlich den Gegensatz des Sinnlichen und Endlichen gegen das absolute, über alles erhabene, allein wahrhaft reale und doch zu einer Abstraktion verflüchtigte Sein sah, hielt er doch stets vielmehr den sittlichen Gesichtspunkt fest, vermöge dessen ihm ein Zwiespalt zwischen Gott und den Menschen wesentlich durch Sünde und Schuld gesetzt war und der auf alles verzichtende gläubige Sünder nicht seiner Persönlichkeit in Gott verlustig geht, sondern eben in jenem Glauben der vergebenden und beseligenden Liebe Gottes froh werden und hiermit auch die wahre Freiheit und Selbständigkeit in der Gemeinschaft mit Gott gewinnen soll.

Neben der akademischen Thätigkeit hatte L. fortwährend seine Pflichten im Kloster zu erfüllen, wo er nach der Rückkehr aus Rom Unterprior geworden war; er hatte da auch zu predigen und eigene Vorlesungen für die Brüder zu halten. Ferner übernahm er das Predigtamt in der Stadtkirche für den krank und alt gewordenen Stadtpfarrer. 1515 wurde er auf einem Convent der deutschen Augustinercongregation zum Vicar des Meißener und Thüringer Districts erwählt, als welcher er über 11 Klöster stand und sie zu visitiren hatte. Seine ersten schriftstellerischen Arbeiten waren die Vorbereitung jener Psalmenvorlesungen zum Druck, mit der er jedoch nicht fertig wurde, jene Herausgabe der deutschen Theologie mit kurzem Vorwort, dann 1517 sein erstes eigenes Buch, nämlich eine praktische deutsche Auslegung der sieben Bußpsalmen. Außerhalb Wittenbergs fand seine theologische, „Augustinische“ und „Paulinische“ Richtung schon lebhafte Theilnahme bei einem Kreis von Freunden in Nürnberg und in Erfurt.

Die positiven Grundprincipien der Heilslehre, die der Reformator vorgetragen hat, hatten so bei ihm unter seinen Schriftstudien schon 1517 sich herausgebildet. Er hatte thatsächlich nicht blos mit der herrschenden Schultheologie gebrochen, sondern auch einen anderen Weg als die ganze hergebrachte kirchliche Auffassung der Heilsordnung eingeschlagen. Im selbständigen Gestalten seiner Ueberzeugungen auf Grund des Schriftwortes ließ er sich auch durch kirchliche Autoritäten nicht mehr binden. Aber noch wußte er sich auch nicht im Gegensatz gegen solche. Noch blieben ihm auch bei seinem Heilsweg die Heilsmittel stehen, welche die Kirche in ihrem äußeren Priesterthum, ihrer Bußordnung, ihrem Kultus, ihrem Meßopfer etc. darbot. Noch drang er auf Gehorsam gegen die ganze bestehende Hierarchie, wenn er auch viele sittliche Verderbnisse und Mißbräuche bei den Trägern des heiligen Amtes beklagte. Man hätte denken können, er werde ähnlich wie jene deutschen Mystiker gerade vermöge seiner tief innerlichen religiösen Richtung jenes Aeußere weiter gewähren lassen, ohne kritisch darüber zu [665] reflectiren. In einen Kampf mit jenen Gewalten und Autoritäten gerieth er erst, als er das Heiligste und die Grundlagen des Heiles durch sie bedroht sah.

Hierzu führte der Ablaßhandel, welchen Papst Leo X. für den Bau der Peterskirche und für andere Zwecke, zu denen er Geld brauchte, in großartigem Maßstabe veranstaltet und für einen großen Theil Deutschlands dem Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg so, daß dieser die Hälfte des Ertrags bezog, in Commission gegeben hatte. L. nahm davon erst Notiz, als Albrechts Emissär, der Dominicaner Tetzel, an die Grenzen Kursachsens und in die Nähe Wittenbergs kam. Er warnte davor, indem er die schlimmen Einwirkungen auf Glieder seiner Gemeinde wahrnahm, im Beichtstuhl und aus der Kanzel und veröffentlichte endlich am 31. October 1517 95 Thesen zu einer Disputation über die Kraft der Ablässe. Er drang in ihnen vor Allem darauf, daß der Christ aus seinem ganzen Leben eine Buße, nämlich eine wahre Aenderung des Sinnes und Wandels machen müsse, anstatt bei den äußerlichen kirchlichen Bußleistungen oder gar bei den Ablässen, welche erleichternd an ihre Stelle traten, sich genügen zu lassen. Für einen, der wahrhaft Reue hege, nahm er Erlaß von Strafe und Schuld auch ohne Ablaßbriefe in Anspruch. Die Grundtendenz der Thesen ist der Widerspruch christlich-sittlichen Ernstes gegen die Leichtfertigkeit, mit der man dort seiner Verschuldungen und Verpflichtungen sich erledigen wollte. Die Strafleistungen, welche beim kirchlichen Bußsacrament vom Beichtiger auferlegt würden, hielt L. hierbei aufrecht, forderte überhaupt demüthige Unterwerfung unter den Priester. Den päpstlichen Ablaß aber wollte er nur auf Leistungen, welche von der kirchlichen Gesetzgebung auferlegt seien, nicht auf Strafen, welche Gott selbst auferlege, und so auch nicht auf die im Fegfeuer abzubüßenden Strafen bezogen haben. Sieht man in diesen Thesen den Anfang der deutschen Reformation und zunächst des großen reformatorischen Kampfes, so könnte man befremdlich finden, daß speciell von jener Bedeutung des rechtfertigenden Glaubens sie nichts sagen. Aber L. selbst dachte nicht daran, in ihnen ein umfassendes oder principielles reformatorisches Programm aufzustellen; sie wollten der gegebenen Veranlassung gemäß nur auf einen bestimmten Punkt in der Lehre von der Buße und in der kirchlichen Bußpraxis sich beziehen, nämlich speciell auf jene Leistungen oder Satisfactionen, welche dem Bußfertigen nach abgelegter Beichte und empfangener Absolution noch auferlegt wurden und für welche dann die Ablässe eintraten. Einen Widerspruch gegen kirchlich festgestellte Lehrsätze meinte er hiermit keineswegs zu erheben, vielmehr nur Mißbräuchen entgegenzutreten, die wol ohne Wissen des Papstes selbst im Schwange gehen.

Erst der Kampf, der über die Thesen sich erhob, trieb L. weiter vorwärts und ließ ihn mehr und mehr erkennen, welcherlei Mächte in der gegenwärtigen Kirche und im Papstthum herrschten. Vor Allem erhob sich gegen ihn der Zorn des Dominicanerordens, dessen Mitglied Tetzel war und dessen hochgefeierter Meister Thomas v. Aquino vorzüglich die dem Ablaßunfug zu Grund liegenden Lehren und die stärksten Aussagen über die Gewalt des den Ablaß spendenden Papstes überhaupt vorgetragen hatte. Die Universität Frankfurt a. O. promovirte den Ablaßkrämer zum Doctor auf Gegenthesen hin, in welchen er jene bestritt. Mit der größten Heftigkeit erhob sich am päpstlichen Stuhl Silvester Prierios, der magister palatii, d. h. päpstlicher Hoflesemeister und Büchercensor; er trug zugleich die stärksten Sätze über die Unterordnung der gesammten Kirche unter den Papst vor, thomistische Theorien, die doch erst in unseren Tagen dazu durchgedrungen sind, katholisches Dogma zu werden. Der bedeutendste Kämpfer, der in Deutschland dem Wittenberger Professor entgegentrat, war Johann Eck, Prokanzler der Universität Ingolstadt. Der Papst selbst, bei welchem die Dominicaner sofort ihre Klage auf Ketzerei erhoben, wollte sich anfangs wenig aus dem [666] Handel des deutschen Mönches machen. Dann ließ er scharfe Erlasse gegen das „Kind der Bosheit“ ausgehen. Aber Rücksichten auf den Landesherrn desselben, den Kurfürsten Friedrich, mit dem er namentlich der bevorstehenden Kaiserwahl wegen ein gutes Einvernehmen zu erhalten bedacht war, hielten ihn von durchgreifenden Schritten zurück. Auf einem Reichstag in Augsburg 1518, wo der Papst Noth hatte, eine für den Türkenkrieg bestimmte Reichssteuer herauszuschlagen, und wo vielmehr die alten Beschwerden der deutschen Nation gegen die Uebergriffe des päpstlichen Stuhles wiederholt wurden, verstand sich der päpstliche Legat Cajetan gegen Friedrich bereitwillig dazu, L. persönlich und mit väterlichem Wohlwollen in Augsburg zu vernehmen. Dieser war inzwischen in Streitschriften über den Ablaß namentlich schon dahin weiter gegangen, daß er auch einer päpstlichen Bulle (von Clemens VI.), welche man ihm zu Gunsten der bestrittenen Ablaßtheorie entgegenhielt, keine entscheidende Kraft zuerkennen wollte. Er hatte ferner den Satz vorgetragen, daß ein Sacrament und so speciell das Bußsacrament und die priesterliche Absolution dem Empfänger nichts nütze, wenn derselbe nicht auch in seinem Innern gläubig das gnädige Gotteswort ergreife; es war der Widerspruch tieferer sittlicher Auffassung gegen eine Heilswirksamkeit, welche der bloße äußere kirchliche Act ausüben sollte, und die Kehrseite des Satzes war, daß ein bußfertiger Christ, der gläubig an Gottes Gnadenwort sich halte, schon hierdurch des Heiles, auch wenn ein Beichtiger ihm willkürlich die Absolution verweigere, theilhaftig werden könne. Beiläufig hatte L. auch schon geäußert, daß der päpstliche Stuhl den Primat in der Kirche nicht immer besessen habe, wornach ihm derselbe nicht schon durch eine Einsetzung Christi und nicht kraft göttlichen Rechtes zukam. Die beiden zuerst genannten Punkte wurden im October 1518 Gegenstand eifriger Verhandlung zwischen ihm und dem Legaten in Augsburg. L. verweigerte trotz Zuredens und Drohens den von ihm geforderten Widerruf. Er appellirte am 16. October von dem nicht gut informirten an den besser zu informirenden Papst und, nachdem er nach Wittenberg zurückgekehrt war, am 28. November vom Papst an ein allgemeines Concil.

Hierauf sandte Leo seinen aus Sachsen gebürtigen, dem kursächsischen Hof befreundeten Kammerherrn Karl v. Miltitz in der nun doch für ihn schwierig gewordenen Angelegenheit nach Deutschland. Derselbe war mit einer großen Zahl Schreiben ausgerüstet, um dem Ketzer den Schutz Friedrichs zu entziehen und ihn womöglich nach Rom einzuliefern, hatte aber auch zugleich Vollmacht, wenn es die Klugheit erfordere, noch eine friedliche Beilegung der Sache zu versuchen. Und diesen Weg einzuschlagen machte ihm nicht blos die Gesinnung Friedrichs, sondern auch die Stimmung, welche er bei der deutschen Bevölkerung vorfand, rathsam. Seine persönlichen Neigungen und sein Wunsch, die Gunst Friedrichs genießen zu dürfen, trugen ohne Zweifel sehr dazu bei, ohne daß wir wüßten, wie weit seine Vollmachten wirklich gingen. Schon in der ersten Woche des Jahres 1519 hatte er mit Friedrichs Zustimmung eine Zusammenkunft mit L. in Altenburg bei Spalatin, dem vertrauten Secretär und Kaplan des Kurfürsten und Freund Luther’s. L. verstand sich dazu den Streit ruhen zu lassen, wenn man auch die Gegner dazu anhielte, und gegen den Papst in einem Brief mit gebührender Demuth zu bekennen, daß er zu heftig sich geäußert habe. Die gegen ihn erhobene Klage sollte vor das Gericht eines deutschen Bischofs gebracht werden; der Erzbischof von Trier wurde dazu bestimmt und fand sich bereit. Aber L. wollte nicht, wie Miltitz meinte, vor diesem und dem bei ihm anwesenden Cajetan sich stellen, ehe man wüßte, was zur ganzen Abmachung der Papst sage, noch gab hierzu Friedrich die Erlaubniß. Und inzwischen veranlaßte Eck die wichtigste neue Wendung im Fortschritt des Kampfes. Derselbe hatte mit dem Wittenberger Professor Carlstadt, der L. in jener Augustinischen und Paulinischen [667] Richtung nachgefolgt war und ihn mit neuen und reformatorischen Ideen zu überbieten bald ehrgeizig sich bemühte, eine in Leipzig zu haltende Disputation verabredet. Die Thesen aber, die er hierfür veröffentlichte, zielten vielmehr auf Sätze, welche bis dahin nur L. ausgesprochen hatte; namentlich griff er Luther’s Behauptung auf von dem erst späteren Ursprung der päpstlichen Obergewalt. L. forderte deshalb für sich Theilnahme an der Disputation. Die geschichtlichen Studien, die er zur Begründung seiner Thesen machte, führten ihn in päpstliche Dekrete hinein, vor denen ihm graute; ja schon sprach er aus, der Papst möchte gar der Antichrist sein. In der Disputation, welche zuerst zwischen Carlstadt und Eck, dann zwischen L. und diesem in der Zeit vom 27. Juni bis 16. Juli statt hatte, bestand L. darauf, daß das Haupt der Kirche nicht der Papst, sondern nur Christus sei, daß auch die Schlüssel des Himmelreichs keinem einzelnen übertragen seien, sondern der Kirche und das hieße der Gemeinschaft der Heiligen. Die päpstliche Gewalt wollte er nur in demselben Sinn wie jede irgendwo bestehende Obrigkeit auf Gottes Willen zurückführen. Das Wesen der Kirche Christi setzte er eben darein, daß sie Gemeinschaft der Heiligen sei, nicht in eine päpstliche Hierarchie. Er stimmte dem vom Konstanzer Concil verurtheilten Satze des Hus bei, daß die Eine heilige und allgemeine Kirche die Gesammtheit der von Gott Erwählten sei. Ja er schritt, als Eck ihm Hussitismus vorwarf, zur Erklärung fort, daß unter den dort verdammten Sätzen des Hus einige ächt christliche seien. Das war der wichtigste Erfolg dieser Disputation. Nachdem L. schon früher bemerkt hatte, daß Concilien irren könnten, erklärte er jetzt, daß das Konstanzer es jetzt wirklich gethan habe, griff hiermit die Autorität desjenigen Concils an, welches gerade von den bisherigen katholischen Gegnern des päpstlichen Absolutismus besonders hoch gestellt wurde, und scheute sich nicht, um der evangelischen Wahrheit willen als Genosse der in ganz Deutschland verhaßten Böhmen zu erscheinen. Zwei utraquistische Geistliche in Prag knüpften daraufhin auch schon Verbindung mit ihm an.

Vornehmlich in Folge der Leipziger Disputation richtete sich auf L. und seinen Kampf jetzt auch die Aufmerksamkeit weiterer gebildeter, namentlich humanistischer Kreise, die bisher dort nur ein Mönchsgezänke vor sich zu haben meinten. In Wittenberg stand schon seit 1518 neben L. der auf einen philologischen Lehrstuhl berufene junge Melanchthon, der vielseitigste und gelehrteste unter den jüngeren Humanisten, nun persönlich von Luther’s Lehre ergriffen und freundschaftlich ihm verbunden. L. selbst nahte sich brieflich dem Meister des Humanismus, Erasmus. – Die lutherischen Schriften verbreiteten sich bereits über die deutschen Grenzen nach Frankreich, England und Italien. Unermüdlich producirte L. neue Streitschriften voll warmen inneren Lebens und Feuers und einfache kleine Schriften zu frommer Erbauung. Die Art, wie er hier seine Muttersprache handhabte (obgleich er auch lateinisch zu polemisiren fortfuhr), machte ihn zum ersten deutschen Volksschriftsteller seiner Zeit. – Die Zahl der Studenten, welche durch L. und Melanchthon nach Wittenberg gezogen wurde, wuchs gewaltig an. Viele Hunderte trugen den Samen, der dort ausgestreut wurde, weiter.

Unter den hergebrachten kirchlichen Bräuchen und Dogmen wurden jetzt namentlich auch die aufs Abendmahl bezüglichen für L. ein Gegenstand seiner biblischen Kritik. Er sprach 1519 das Verlangen aus, daß ein christliches Concil den Laien wieder den Kelch gewähren möge: da wurde er erst recht als Böhme verschrieen, und besonders dies erregte den Widerwillen, welchen seither Herzog Georg von Sachsen fortwährend gegen ihn zeigte, Tiefer griff ins ganze dogmatische und kirchliche System des Katholicismus ein, daß er im Leib des Herrn bei der Messe nur noch eine Gabe zum gläubigen Genuß der Communicanten [668] sah, nicht mehr ein Opfer, welches zur Versöhnung Gott dargebracht und in dessen Darbringung die höchste Thätigkeit des Priesterstandes gesetzt wurde. Bald sah er auch in der Lehre, daß durch die priesterliche Consecration Brot und Wein in die Substanz des Leibes und Blutes Christi verwandelt werde und von jenem nur die äußere Gestalt übrig bleibe, eine bloße scholastische Erfindung, wogegen man nur einfach eine wahre Gegenwart des Leibes im Sacrament den Einsetzungsworten gemäß festzuhalten habe. In der priesterlichen Weihe erkannte er kein Sacrament mehr, sondern einen blos menschlichen Brauch, durch welchen daher den Geweihten auch kein besonderer geistlicher Charakter im Unterschied von dem allen Getauften verliehenen zu Theil werde. So wurden für ihn allmählich alle die Grundlagen und Vollmachten der bestehenden Hierarchie hinfällig. Die für ihn jetzt feststehende Idee der Kirche Christi als der Gemeinde der Heiligen oder Gläubigen, zu deren Bestand keine anderen göttlichen Stiftungen, als das Wort, die Taufe und das Abendmahl nothwendig gehören, verfocht er gegen jenes Kirchenthum besonders in seiner Schrift „Von dem Papstthum zu Rom“ 1520 gegen den Franziskaner Alveld.

Bei der römischen Curie wurde inzwischen der Erlaß einer Bannbulle betrieben, die endlich ohne weitere Rücksichtnahme gegen seine Person wie gegen seine Schriften ergehen sollte; Eck war für diesen Zweck persönlich in Rom thätig. Kurfürst Friedrich hatte dem von ihm hochgeschätzten Wittenberger Lehrer bisher stets mit Berufung darauf seinen Schutz gewährt, daß er noch nicht ordentlich widerlegt und abgeurtheilt sei. Beim Herannahen des Bannfluchs wurde doch sehr fraglich, ob derselbe noch in Wittenberg verbleiben könnte. Freunde waren schon während jenes Augsburger Reichstags 1518 damit umgegangen, ihn nach Paris zu flüchten, wo die Universität damals noch in ihm einen Mitstreiter gegen den päpstlichen Absolutismus und die Rechte der Concilien hätte sehen können. Nach den Fortschritten, welche L. seither auf seiner Bahn gemacht, war dies nicht mehr möglich. Man sprach von einer Zufluchtstätte, die er in Böhmen suchen müßte: ein überaus bedenklicher Schritt, indem dadurch nicht blos seine Wirksamkeit auf Deutschland sehr gehemmt worden wäre, sondern sofort auch große Differenzen zwischen ihm und der Masse der böhmischen Utraquisten sich hätten herausstellen müssen.

Sehr wichtig wurde da für L. die Stellung, welche Vertreter des deutschen Adels zu seiner Sache einnahmen. In der damaligen politischen und socialen Entwicklung der deutschen Nation und des Reiches mußte der zunehmenden Gewalt der Fürsten und zugleich der Erhebung des reichen Bürgerthums gegenüber dieser Adel überhaupt sich beengt und zum Erstreben und Erkämpfen ersprießlicher allgemeiner Reformen aufgefordert finden. Bei seinen tüchtigsten Gliedern verband sich Eifer um die Ehre und Unabhängigkeit der Nation im Ganzen und so besonders auch gegen die schmählichen welschen Uebergriffe und Erpressungen mit den eigenen Standesinteressen. Zugleich fand bei ihnen die neue humanistische Bildung Gunst und Eingang. Der Ritter Ulrich v. Hutten hatte selbst eine rege Thätigkeit als kämpfender Schriftsteller im Dienste der Nation und der freien Wissenschaft begonnen. Mit ihm verband sich Crotus, der bei der Abfassung der epistolae obscurorum virorum vorzugsweise betheiligt war und jetzt aus Italien voll von Erfahrungen, die er von den dortigen Verderbnissen und Aergernissen gemacht hatte, zurückkehrte. Derselbe war mit L. in der Erfurter Studentenzeit befreundet gewesen und jetzt für diesen tapferen christlichen Streiter begeistert. Auch Hutten suchte Verbindung mit diesem, und neben Hutten, dem Manne des lauten, kräftigen, oft aber auch hohlen und leeren Wortes stand der kräftige und mit stattlichen Mitteln ausgerüstete Reichsritter Franz v. Sickingen. In Sickingen’s Auftrag richtete jetzt Hutten durch Melanchthon an L. das Anerbieten, [669] den Schutz einer der Sickingen’schen Burgen anzunehmen. Ein gleiches Erbieten erging an ihn vom Ritter Silvester v. Schauenburg, der zugleich auf eine Menge anderer gleichgesinnter Adliger sich berief. L. fühlte sich gestärkt und zu desto rücksichtsloserem Vorgehen angefeuert. Auch weiteres Material zu den Beschwerden über Rom bot sich ihm in Streitschriften dieser Richtung reichlich dar. Sein eigener Blick ferner erweiterte sich über das religiöse Hauptgebiet, in welchem doch all sein Streben stets wurzelte und sich concentrirte, hinaus. Auf die allgemeinen Beschwerden der deutschen Nation über die äußeren von Rom ausgehenden Mißbräuche, Uebergriffe und Beeinträchtigungen war er vornehmlich schon seit dem Augsburger Reichstag und durch damals erschienene Schriften aufmerksam geworden. Zugleich richtete er sich gegen allgemein sittliche und sociale Schäden seiner Deutschen, Fressen und Saufen, Luxus, Wucher etc. Der Anklang, den das von ihm verkündete Gotteswort bei einflußreichen Laien fand, machte ihm Muth zu der Hoffnung, daß durch den Laienstand die vom Priesterstand zurückgewiesene Reformation der Kirche zu Theil werden möchte, während der den Geistlichen und Laien gleichermaßen zustehende christliche, geistliche Charakter diesen das Recht und die Pflicht dazu gab. Er äußerte den Wunsch, daß gegen den Papst und seine Knechte und Buben die Fürsten, Adlige, Städte und Gemeinden losbrechen, ja daß Kaiser und Fürsten gegen die Romanisten gar zum Schwert greifen möchten.

Einen großartigen Aufruf zur Mitthätigkeit der Laien erließ L. in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nationen: von des christlichen Standes Besserung“, welche zu Anfang August 1520 erschien. Er stützte sich auf das allgemeine Priesterthum, an welchem alle Getauften theil haben. Dabei wollte er übrigens eine Thätigkeit der Laiengemeinde im Anschluß an die in ihr selbst bestehenden Ordnungen: es sind zunächst Fürsten, Adel, Magistrate, die er zur Thätigkeit ruft. Die Gegenstände, für welche er sie ausruft, sind die kirchlichen Mißbräuche, wie solche auch schon auf den Reichstagen erörtert worden waren. Für die Reformation im Großen fordert er ein freies christliches Concil, zu dessen Berufung jedes treue Glied der Christengemeinde und vornehmlich die Obrigkeiten als Mitchristen und Mitpriester eifrig mitwirken sollten. Den Anmaßungen, Eingriffen, Gelderpressungen etc. des päpstlichen Stuhles sollte gesteuert werden. Zugleich forderte L. jetzt Aufhebung des Cölibats für die Geistlichkeit. Zur Besserung des christlichen Standes rechnete er ferner eine Reform der Universitäten und zugleich die Herstellung von Schulen, auch von Mädchenschulen wenigstens in den Städten. Noch weiter verbreitete er sich über das allgemein sittliche bürgerliche und sociale Leben von den christlich sittlichen Principien aus. Das Armenwesen sollte geordnet werden mit Abstellung alles Bettels, die Bordelle unterdrückt, gegen den Luxus und gegen das wucherische Treiben der großen Kaufhäuser eingeschritten. So umfassend, wie nachher nie wieder, hat L. hier die Aufgabe einer christlichen Reformation und zwar mit besonderer Bezugnahme auf die Zustände seiner lieben Deutschen ausgeführt. Gegen den Wucher gab er auch besondere Sermone heraus.

Inzwischen hatte der Papst schon am 15. Juni die Bannbulle gegen L. erlassen. In Deutschland hörte man nur erst gerüchtweise davon. Ein Convent der Augustiner ließ sich durch Miltitz zur Bitte an L. bestimmen, daß er der letzten Entscheidung noch durch ein Schreiben an den Papst zuvor kommen möge, und dieser versprach dem Papst zu schreiben, daß er seine Person nicht habe angreifen wollen. Zugleich aber ließ er seiner Schrift an den Adel eine nicht minder entschiedene, mehr für die Theologen bestimmte, gegen dogmatische Grundirrthümer Roms und zwar speciell gegen die Sacramentenlehre sich richtende lateinische Schrift über die „Babylonische Gefangenschaft der Kirche“ nachfolgen. [670] In Betreff des Abendmahls verwarf er die Transsubstantiation und noch schärfer das Meßopfer. Der Buße, wie sie von der Kirche gefordert wurde, stellte er die fortwährende Geltung der christlichen Taufe und die Bedeutung des an Gottes Verheißung sich haltenden Glaubens entgegen. Was der Katholicismus von weiteren Sacramenten lehrte, verwarf er als unbiblisch.

Kurz ehe dieses Büchlein (zu Anfang Octobers) die Presse verließ, hatte Eck die Bulle nach Deutschland gebracht und veranstaltete, daß sie an verschiedenen Orten öffentlich angeschlagen wurde. Dennoch wollte Miltitz den Glauben an den Erfolg eines Schreibens an den Papst, dessen Bulle dem Verurtheilten noch Zeit gab und erst nach 120 Tagen in Kraft treten sollte, nicht aufgeben und L. seiner Zusage nicht untreu werden. Nur sollte das Schreiben auf den 6. September, wo die Bulle noch nicht publicirt war, zurück datirt werden. So faßte es L. ab, indem er den Papst darin nur eben dessen versicherte, daß er seine Person, seinen Charakter und Wandel nicht habe angreifen wollen, zugleich aber über die Verderbnisse des päpstlichen Stuhles die stärksten Sätze wiederholte. Zugleich übersandte er dem Papst ein Schriftchen „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, welches zeigen sollte, wie er einfältige Christen in Kürze die Summa christlichen Lebens lehre. Die Nachwirkungen jener edeln praktischen Mystik verbinden sich hier in tiefer, lebensvoller und schlichter Darstellung mit der neu ans Licht gebrachten Heilslehre, der Lehre von der Glaubensgerechtigkeit: eins werde die gläubige Seele durch den Glauben ans Wort mit dem Wort und mit Christus selbst, und so werde der Christ der Welt gegenüber frei, Priester Gottes und König und Herr über alles, so aber gebe er, der für sich schon das Höchste habe, dann auch in Liebe dem Nächsten sich hin und lasse sich um des schwachen Bruders willen auch noch äußere Satzungen, die seiner Freiheit doch keinen Eintrag thun können, gefallen. So enthalten die tief religiösen Gedanken der Schrift zugleich die Begründung für das Recht der Reformation und die Mahnung an die Rücksichten der Liebe und Zucht, mit denen sie durchgeführt werden sollte. – Die drei zuletzt genannten Schriften werden mit Recht als die drei reformatorischen Hauptschriften Luther’s bezeichnet. Daneben ist als besonders wichtige, vom Heilsweg handelnde Lehrschrift Luther’s aus jener Zeit noch sein schon 1519 erschienener aus Vorlesungen hervorgegangener Commentar zum Galaterbrief aufzuführen (zu unterscheiden von dem größeren, ebenso wichtigen, welcher 1535 erschien).

Davon, daß ein solcher Brief und eine solche Schrift den Papst nicht umstimmen werde, war L. sicherlich überzeugt. Seine Aussicht war mit einer Bestimmtheit und Consequenz, in welche unsere moderne Geschichtsbetrachtung sich zu wenig hinein zu versetzen pflegt, jetzt fort und fort auf den jüngsten Tag hin gerichtet. Die Gewißheit, daß im Papst schon der in der Bibel geweissagte Antichrist erschienen sei, versicherte ihn auch schon der Nähe jenes Tages, wo dieser gestürzt werden müsse. Bis dahin wußte er sich berufen, denselben aufs äußerste zu bekämpfen. Als der Bulle gemäß seine Bücher als ketzerische verbrannt wurden, antwortete er am 10. December mit einer feierlichen Verbrennung der Bulle und der päpstlichen Rechtsbücher.

Durch die ganze deutsche Nation verbreitete sich jetzt die Bewegung und der Kampf. Zu den kleinen Schriften, welche L. unermüdlich unter die Gebildeten und das ganze Volk ausgehen ließ, gesellten sich andere, großentheils von ungenannten Verfassern mit heftigen Ausfällen auf römische Trügerei und Schinderei. Hutten, jetzt gleichfalls deutsch schreibend, trieb auf ein Losschlagen hin, ohne doch je einen klaren politischen Plan zu zeigen. L. erklärte jetzt dem gegenüber nur um so entschiedener, daß nur das Wort kämpfen und siegen solle. Auch Gegner Luther’s begannen deutsch zu schreiben und an alle deutschen Christen [671] sich zu wenden. L. hatte jetzt namentlich auch Streitschriften mit dem Dresdener Theologen Emser zu wechseln, mit welchem er schon nach der Leipziger Disputation in Streit gerathen war.

Für die Vollziehung der Bannbulle aber versagte nicht blos Kurfürst Friedrich seine Hand, sondern auch andere Reichsfürsten, die für ihn keine persönliche Theilnahme hegten und von ihrem alten Glauben nicht weichen wollten, stimmten wenigstens in die Beschwerden über große kirchliche Schäden und über die Gleichgültigkeit des Papstes gegen dieselben mit ein und sahen in L. wenigstens ein Mittel, durch welches man auf diesen einen Druck zu endlicher Herbeiführung von Reformen üben könnte. Die Beschwerden wurden besonders wieder auf dem Reichstag laut, der in Worms 1521 sich versammelte. Der neue Kaiser Karl V. war, während ihm für Luther’s evangelische Heilslehre Sinn und Verständniß abging, doch gleichfalls ernstlich auf Abstellung der äußeren Mißbräuche und der dem Klerus vorgeworfenen sittlichen Aergernisse und zugleich auf eine der Würde des Königthums und Kaiserthums entsprechende Auseinandersetzung zwischen den höchsten weltlichen und geistlichen Gewalten bedacht. Dem gegenwärtigen Papst gegenüber bedurfte ferner seine Politik Mittel, ihn von einem Bündniß mit Frankreich zurückzuhalten, durch welches derselbe gegen die Macht des Hauses Habsburg sich zu schützen wünschte. Trotz eines päpstlichen Schreibens, welches ihn aufforderte, dem Verdammungsurtheil gegen L. Kraft zu geben, stimmte er zu, daß dieser erst noch vor den Reichstag geladen würde. Zwar beschlossen dann die Reichsstände ihn nur zu befragen, ob er auf seinen Schriften gegen ihren heiligen Glauben bestehe. Aber schon dieses Eingreifen des Reichstags war ein principiell wichtiger Schritt den päpstlichen Rechtsansprüchen gegenüber, und jene Frage ließ immer noch Raum für verschiedene Auffassungen jenes Glaubens und für Angriffe gegen das Papstthum, zu welchen die Stände mit L. unbeschadet ihres Glaubens sich hätten verbünden können. L. war sofort muthig bereit der Citation zu folgen. Der kaiserliche Beichtvater Glapio machte noch einen merkwürdigen, geheimnißvollen Versuch, ihn von dem Weg ab zu einer Unterredung aus Sickingen’s Burg Ebernburg zu ziehen: sei’s daß er ihn dort noch umzustimmen und für ein Vorgehen in seinem und des Kaisers Sinne zu gewinnen hoffte, sei’s, daß er sein Erscheinen vor dem Reichstag, das doch bedenkliche Folgen haben konnte, noch im letzten Augenblick hintertreiben wollte. L. aber blieb aus seinem geraden Weg. Gleich am Tage nach seiner Ankunft in Worms, am 17. April, wurde ihm vor dem Reichstag kurzweg die Frage vorgelegt, ob er die neben ihm aufgehäuften Bücher für die seinigen anerkenne und ihren Inhalt widerrufe oder dabei beharre. Auf einen so kurzen Proceß war er doch nicht gefaßt, erbat sich demüthig Bedenkzeit und erhielt hierzu einen Tag. Tags darauf erklärte er in einer längeren Rede, daß er weder diejenigen seiner Bücher widerrufen könne, in welchen er allgemeine evangelische Wahrheiten vortrage, noch auch diejenigen, in welchen er das Papstthum angegriffen, und diejenigen, in welchen er einzelne Verfechter der päpstlichen Tyrannei wol mit zuviel persönlicher Heftigkeit bekämpft habe, weil er ja sonst der Bosheit und Gottlosigkeit Vorschub leisten würde, und daß er Gegenbeweise aus der heiligen Schrift sich erbitten müßte. Dieses sein Verlangen wurde zurückgewiesen, weil seine Ketzereien schon durch die bisherige Kirche und namentlich das Konstanzer Concil endgültig abgeurtheilt seien; er sollte einfach antworten, ob er auf allem beharren, oder etwas widerrufen wolle. Darauf antwortete er: wofern er nicht durch Zeugnisse der heiligen Schrift oder durch helle Gründe (ratione evidente) widerlegt werde, so sei er, da er weder dem Papst noch den Concilien allein, die bekanntermaßen öfters geirrt haben, glauben könne, überwunden durch die von ihm angeführten heiligen Schriften und sein Gewissen gefangen in Gottes [672] Worten; er könne und wolle nichts widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln gefährlich sei. Er schloß mit dem Hilferuf zu Gott, der am meisten unserer geschichtlichen Ueberlieferung sich eingeprägt hat: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ Die Worte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ sind neuerdings in Zweifel gezogen worden. Sie finden sich (mit der Wortstellung: „Ich kann nicht anders, hier steh ich“ etc.) schon in zwei gleich darauf erschienenen Drucken, einem lateinischen Text der Rede und einem deutschen Referat über die Verhandlung. Sie fehlen in der Mehrzahl der damals erschienenen gedruckten Berichte. Diese enthalten jedoch nicht Zeugnisse verschiedener Ohrenzeugen, sondern weisen auf eine Quelle zurück. Zu Grunde liegt ihnen wol eine Aufzeichnung von Luther’s eigener Hand; die Frage aber ist, ob nicht gerade er selbst seine Worte kürzer zusammen gefaßt hat. In die herrschende Ueberlieferung sind jene Worte gekommen durch die Wormser Akten in dem zweiten Band der lateinischen Werke Luther’s, welcher schon vor Luther’s Tod in die Presse gekommen und kurz nach demselben durch Melanchthon herausgegeben worden ist. An der Herausgabe der Werke haben Freunde Luther’s und besonders der in Worms mit anwesende, 1545 gestorbene Spalatin fleißig mit gearbeitet; der gleichfalls dort anwesende Freund Amsdorf lebte noch; Luther’s jüngerer Freund Mathesius erzählt, daß er L. selbst den Seinen die Wormser Vorgänge schildern hörte, und hat dann in seine Biographie Luther’s die Worte in jener Gestalt aufgenommen. Hiernach hat die Kritik kein Recht sie aus der Geschichte zu streichen.

Das Entscheidende in Luther’s Antwort lag darin, daß er der von ihm erkannten Schriftwahrheit gegenüber keine menschlich kirchliche Autorität, auch nicht mehr die eines Concils gelten ließ. Er stieß hiermit auch alle diejenigen Anhänger des bisherigen Kirchenthums von sich, welche im Sinne der großen Concilien des vorigen Jahrhunderts unter Widerspruch gegen den päpstlichen Absolutismus Reformen vornehmen wollten. Vergebens versuchte nachher noch eine Commission unter dem Erzbischof von Trier ihn wenigstens dazu zu bewegen, daß er die in Konstanz verurtheilten Sätze zurücknehme und der Entscheidung eines künftigen Concils sich unterwerfe.

So mußte er am 26. April wieder von Worms heimwärts reisen. Unterwegs wurde er, wie ihm vorher von Seiten des kurfürstlichen Hofs angezeigt worden war, in der Nähe der Wartburg festgenommen und heimlich auf dieses kursächsische Schloß gebracht. Hier sollte er in der Verborgenheit den Schutz genießen, den ihm Friedrich in Wittenberg nicht mehr gewähren konnte. Von Worms aus erging jetzt gegen ihn die Reichsacht. Der Kaiser jedoch verließ Deutschland und wurde bald durch einen Krieg mit König Franz von Frankreich, welchem der Papst sich verbündete, beschäftigt. Es war Niemand in Deutschland, der die Acht an L. zu vollziehen versuchte. Sein Aufenthalt wurde sorgfältig geheim gehalten. Er lebte dort als Junker Georg.

Der Aufenthalt auf der Wartburg brachte L. eine äußere Ruhe und Stille, die für seine innerliche Sammlung förderlich war und zugleich in neuen schriftstellerischen Arbeiten fruchtbar wurde. Er fuhr auch hier mit Polemik fort. Den heftigsten Ausfall bereitete er gegen den Erzbischof Albrecht vor, weil derselbe im Zusammenhang mit einer großen Reliquienausstellung in seiner Stadt Halle ein neues Ablaßärgerniß anrichtete; derselbe wurde jedoch durch Spalatin nach des Kurfürsten Friedrich Geheiß und durch ein ganz demüthiges Schreiben Albrechts selbst an den ihm drohenden Strafprediger noch zurückgehalten. Insbesondere aber fand L. jetzt Zeit und Ruhe für größere Arbeiten zur positiven Erbauung und Belehrung der deutschen Christenheit. Hier begann er jetzt sein [673] Werk der Kirchenpostille, deren erstes Stück im November 1521 unter die Presse kam.

Noch wichtiger wurde der Wartburgaufenthalt durch die Wendung, welche er für die kirchliche reformatorische Thätigkeit Luthers mit sich brachte. Vor Allem war ersichtlich, daß die durch ihn entstandene große Bewegung sich jetzt weiter entfalten und Bahn brechen würde, auch wenn er ganz vom Schauplatz verschwände; und sie schritt fort in einer Weise, die ihn selbst jetzt vielmehr zu einem Einschreiten in conservativem Sinn drängte. Bisher hatte er nur mit dem einfachen Wort auf die Erkenntniß, Ueberzeugung und Gesinnung der Hörer und Leser gewirkt. Andere waren es, die zuerst an äußere Reformen und Anordnungen die Hand anlegten, und seine eigene Thätigkeit auf diesem Gebiet bestand nun zuerst darin, daß er mäßigte und zurückhielt. In Wittenberg traten so Carlstadt und Luther’s Ordensbruder Zwilling (Didymus) jetzt als Reformatoren auf. Sie wollten keine Messe und kein Abendmahl unter Einer Gestalt mehr dulden, wollten ferner nicht blos den Cölibat der Geistlichen, für welche Carlstadt sogar die Verheirathung zum Gesetz machen wollte, sondern auch das Mönchthum abthun, und ein großer Theil der Mönche des Augustinerklosters verließ dieses wirklich. Zu diesem Ungestüm kam Unfug und Tumult von Seiten der Bevölkerung und der Studenten den Mönchen und Meßgottesdiensten gegenüber. Zugleich hing sich der biblische Eifer der Reformer an kleinliche Aeußerlichkeiten: auch in solchen sollte das neue Abendmahl ganz dem einst von Christus gehaltenen gleich gemacht werden.

L. nahm von der Wartburg aus natürlich lebhaften Antheil an diesen Vorgängen. Auch er war entschlossen keine Privatmessen mehr zu halten und ließ eine neue Schrift gegen diese ausgehen. Auch er billigte es, wenn eine zur christlichen Erkenntniß gekommene Gemeinde sich die Entziehung des Kelches beim Abendmahl nicht mehr gefallen lasse. Die Mönchsgelübde griff er jetzt erst in ihrem tiefsten Grunde an, während die Argumente Carlstadt’s und Melanchthon’s gegen ihre Gültigkeit seinem schärferen Urtheil nicht genügten: sie seien, sagte er, wegen der Gesinnung und Absicht, in der man zu geloben pflege, in ihrem Grunde gottlos und deshalb unverbindlich. Aber höchst bedenklich war ihm, was er von dem Ungestüm der Neuerer, ihrer Rücksichtslosigkeit gegen Schwache und gar von Unfug und Gewaltthätigkeit hörte. Plötzlich erschien er zu Anfang December heimlich selbst inmitten der Wittenberger Freunde und verweilte bei ihnen drei Tage.

Auf die Wartburg zurückgekehrt verfaßte er „Eine treue Vermahnung für alle Christen sich zu verhüten vor Aufruhr und Empörung“. Denn er fürchtete, daß die Wittenberger Vorgänge nur ein schwaches Vorspiel sein möchten zu einer gewaltsamen blutigen Volkserhebung gegen die römische Geistlichkeit und die Mönche. Dann begann er dort auf Andringen von Freunden das wichtigste Werk des Wartburgaufenthalts, die Uebersetzung der heiligen Schrift und zwar zunächst des Neuen Testaments aus dem Grundtexte. Deutsche Bibelübersetzungen waren bekanntlich damals schon mehrere vorhanden; aber nicht jener Text, sondern die mangelhafte kirchliche lateinische Uebertragung (Vulgata) lag ihnen zu Grunde, und jeder Blick in sie zeigt, wie wenig sie dem deutschen Ohr, Geist und Gemüth zu genügen vermochten und wie Schweres und Großes hier erst noch zu leisten war. Doch die fortgesetzten Nachrichten aus Wittenberg ließen ihm keine Ruhe mehr. Während dort im Gemeindegottesdienst die neue Abendmahlsfeier durchgesetzt, das Volk zum Essen von Fleisch an den Fasttagen aufgefordert und weitere Reformen betrieben wurden, sah er über den äußeren Ordnungen und Freiheiten die Sorge für die Seelen versäumt und verleugnet; [674] namentlich war auch jede Vorbereitung der Communicanten zum Abendmahlsgenuß dort weggefallen. Weiter erhob sich jetzt durch Carlstadt ein Sturm gegen die Bilder in den Kirchen, die Gott durch Mose verboten habe, während L. vor dem herkömmlichen Bildercultus warnte, dem Buchstaben des alttestamentlichen Verbotes aber keine Geltung mehr für die Christen zuerkannte und in jenem Eifern um solche äußerliche Dinge überhaupt eine Verleugnung des christlichen Glaubens und der christlichen Liebe sah. Dazu drängten sich nach Weihnachten drei Schwärmer eigenthümlicher Art, welche aus Zwickau ausgewiesen worden waren, der frühere Student Markus Stübner, der Tuchmacher Nicolaus Storch und noch ein anderer Tuchmacher in Wittenberg ein, wo der Theologe M. Cellarius sich ihnen anschloß. Sie rühmten sich unmittelbarer Offenbarungen durch Worte und Gesichte vom Himmel her, verwarfen die Kindertaufe, forderten eine Erhebung der Seelen zum geistigen Verkehr und Einswerden mit Gott in Abkehr von allem Sinnlichen und Endlichen nach der Weise älterer Mystiker und zugleich einen Umsturz aller äußerer Ordnungen, indem ein Reich der Heiligen mit Vernichtung der Gottlosen hergestellt werden müsse. Carlstadt machte nicht Gemeinschaft mit ihnen; aber eine gewisse Verwandtschaft des Geistes war hier nicht zu verkennen und man mußte fürchten, daß die von ihm ausgegangene Erregung den weitergehenden Fanatikern vorgearbeitet habe. Melanchthon war erschrocken und fühlte sich unsicher. Der Magistrat rief Luther’s Hilfe an. Da eilte dieser ohne kurfürstliche Erlaubniß herbei, um offen wieder seinem Beruf in Wittenberg nachzukommen, zu Anfang des März 1522. Er wollte es ganz nur im Vertrauen auf Gottes Schutz thun: wolle der Kaiser die Acht an ihm vollstrecken, so möge der Kurfürst denen, die ihn holen, freies Geleit geben; mehr werde man demselben nicht zumuthen.

In einer Reihe von acht Predigten legte L. nun seiner Wittenberger Gemeinde die Grundsätze der christlichen Liebe und Zucht ans Herz, wozu der evangelische Glaube und die wahre Freiheit verpflichte. Er brachte hiermit das Ungestüm, mit welchem dort die Reformen begonnen worden waren, sofort zur Ruhe. Diese Sermone bleiben ein Hauptdenkmal seiner nach dieser Seite hin gerichteten reformatorischen Thätigkeit. Die Zwickauer Propheten, die er im Augenblicke seiner Rückkehr nicht in Wittenberg traf, traten ihm bald nachher in einem persönlichen Gespräch gegenüber, fanden dann aber für besser die Stadt für immer zu räumen. Er selbst schritt dann nur allmählich mit Neuerungen im Gottesdienst voran. Den sogenannten Meßkanon, nämlich die aufs Opfer bezüglichen Worte, nahm auch er nicht wieder auf. Dagegen hielt er darauf, daß die Abendmahlsgäste zuvor dem Geistlichen sich meldeten, ihm ihr Verlangen nach Sündenvergebung aussprachen, sich Zuspruch der Vergebung erbaten, auch über ihr christliches Verständniß befragt wurden. In dieser Weise und zu diesem Zwecke hat er auch fernerhin die Privatbeichte sammt der Privatabsolution stets als eine werthvolle Einrichtung festgehalten, hat auch für seine eigene Person stets von ihr Gebrauch gemacht, übrigens erklärt, daß auch aus der Beichte in dieser Form kein Zwang gemacht werden dürfte. Den Kelch ließ er beim Abendmahl anfangs nur solchen Laien reichen, welche selbst es begehrten; bald jedoch kam es auf diesem Wege dahin, daß das Abendmahl nur noch unter beiden Gestalten ausgetheilt wurde. L. selbst blieb noch in seinem Kloster, das allmählich ganz sich leerte, befolgte auch noch die gewöhnlichen klösterlichen Ordnungen mit Beten, Fasten etc.; erst zwei Jahre nachher legte er die Mönchskutte ab.

Von Wittenberg aus wirkte er durch Predigten auch in benachbarten Städten und war dazu behilflich, für sie und für die ferner gelegenen Orte, wo sein Evangelium Beifall fand, gleichgesinnte Prediger zu gewinnen. Sein ständiger [675] Beruf aber blieb der des Professors, der in Auslegung biblischer Bücher die christliche Wahrheit vortrug, und zugleich fuhr er fort der städtischen Gemeinde Wittenbergs freiwillig und unentgeltlich als Prediger zu dienen neben seinem Freunde Bugenhagen aus Pommern, der jetzt Stadtpfarrer dort wurde. Von seinem großen Werke der Bibelübersetzung konnte er schon im September 1522 den ersten Theil, das Neue Testament, erscheinen lassen. Dann schritt er sogleich weiter ans Alte Testament, das jedoch nicht blos seines Umfanges wegen längere Zeit brauchte, sondern besonders auch durch die Sprache größere Schwierigkeiten machte. Die Uebertragung desselben erschien in mehreren Theilen nach längeren Zeitabschnitten, bis endlich im J. 1534 die erste Gesammtausgabe der deutschen Bibel fertig wurde. Den Verboten, welche von den katholisch kirchlichen Autoritäten wider die Neuerungen und wider seine Bücher erlassen wurden, und der Geltung dieser Autoritäten überhaupt trat er in neuen kleinen Schriften entgegen. So schrieb er: „von Menschenlehren zu meiden“ und „wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe“. Er mußte ebenso mit der Autorität der weltlichen Gewalten oder der Staatsgewalt, die jenen Autoritäten ihren Arm darbot, sich auseinandersetzen. Und andererseits galt es für ihn, das Recht und die Würde der weltlichen Obrigkeiten nachzuweisen und zu behaupten im Gegensatz gegen die mittelalterlich katholische Auffassung, wonach das ganze staatliche Leben und der obrigkeitliche Beruf nur einer niedrigeren Stufe der Sittlichkeit angehören und die höchste, christliche Sittlichkeit und Vollkommenheit vielmehr in einer Abkehr von allen weltlichen Dingen bestehen sollte, und auch den Bedenken evangelisch Gesinnter gegenüber, welche fragten, wie jene Gewalt mit dem Gebote Jesu, dem Uebel nicht zu widerstreben, sich vertragen sollte. In dieser Hinsicht ist seine wichtigste Schrift aus jener Zeit die „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“, vom Jahre 1523. Er lehrt die göttliche Einsetzung und den hohen göttlichen Beruf der Obrigkeit, gegen Sünde und Unrecht einzuschreiten, während dagegen Selbstrache und überhaupt eine blos egoistische Selbstwehr des einzelnen unchristlich sei und bleibe. Er verbietet auch jeden gewaltsamen Widerstand gegen jene, auch wenn sie ihre Gewalt mißbrauche. Aber er beschränkt ihren Beruf aufs äußere Leben auf Verfügungen über Leib und Gut etc. und verbietet ihr gegen die Seelen Zwang zu üben; auch der Verführung durch Irrlehrer solle nur durchs Wort entgegengewirkt werden. – Von Seiten der Reichsgewalt übrigens wurde Luther’s Werk für jetzt nicht mehr bedroht. Auf den Reichstagen war keine Majorität für Vollziehung des Wormser Edicts zu gewinnen; nach einem Beschluß vom Jahre 1524 sollten die Reichsstände jenem nur so viel als möglich nachkommen und die lutherischen Lehren erst noch geprüft und einem künftigen Concil vorbehalten werden. – Als im J. 1523 Sickingen, der Freund Luther’s, in einem Krieg gegen den Erzbischof von Trier sein Ende fand, konnte dies doch nicht zum Nachtheil der lutherischen Reformation verwendet werden, da diese selbst mit dem Unternehmen des Ritters nichts zu thun hatte und L. es vielmehr mißbilligte.

Die neue Gestalt, welche L. dem Gottesdienst in Wittenberg gegeben hatte, legte er 1523 in einer kurzen „Formula missae et communionis“ der Oeffentlichkeit vor, erklärte übrigens immer, daß aus solchen Formen kein neues Gesetz gemacht werden dürfe und alles nur an der lauteren Verkündigung des göttlichen Wortes liege. In demselben Jahr trat er zum ersten Mal mit eigenen christlichen Liedern in deutscher Sprache hervor. Er besang den Märtyrertod zweier junger Augustinermönche, die in Brüssel als Ketzer verbrannt wurden, in einem Liede, das unter den historischen Volksliedern unserer Nation stets eine der ersten Stellen einnehmen wird, und dichtete sein ebenfalls im besten volksthümlichen [676] Ton gehaltenes Gemeindelied „Nun freut Euch lieben Christen gmein“. Im J. 1524 erschien das erste Gesangbüchlein der deutschen Reformation mit acht Liedern, darunter vieren von L. Die Zahl seiner uns bekannten Lieder stieg in diesem Jahr auf 24, zu denen später nur noch 12 weitere getreten sind. – Was den Aufbau einer neuen kirchlichen Verfassung betrifft, so zeigt eine Schrift („De instituendis ministris“) vom Jahre 1523, welche er an die ihm sich nähernden böhmischen Utraquisten und speciell an die Gemeinde von Prag richtete, wie er einen solchen von den Gemeinden selbst aus und auf Grund des allgemeinen Priesterthums sich dachte. Er räth jenen, selbst Aelteste oder Bischöfe für sich zu bestellen, die dann sich Vorgesetzte oder Visitatoren erwählen möchten, bis ganz Böhmen ein ordentliches evangelisches Episkopat bekäme. Den Akt der Einzelgemeinden denkt er sich übrigens so, daß die ganze bürgerliche Gemeinde als christliche darin thätig werde und die in ihr Höhergestellten auch hier vorangehen sollten. Für Deutschland war indessen von einer solchen Organisation überhaupt noch nicht die Rede; die Hauptfrage war ja noch, wie weit etwa das Reich im Ganzen und die Reichsgewalt noch für eine evangelische Reformation zu gewinnen sei. Es handelte sich nur erst um eine Ausbreitung der evangelischen Predigt und dafür wurden besonders die Magistrate gleichgesinnter städtischer Bevölkerungen und einzelne Kirchenpatrone nach Luther’s Wunsch thätig. – Unmittelbar mit dem kirchlichen Interesse blieb bei L. das für die christlichen Schulen und zwar speciell die Schulen, welche künftige Diener der Kirche und des Staates heranbilden sollten, vereinigt: so schrieb er namentlich an die „Bürgermeister und Rathsherrn der Städte in deutschen Landen“ 1524.

Schon drang die Reformation nach Luther’s Sinn in einer Reihe bedeutender Städte durch, wie Magdeburg, Frankfurt a. M., Nürnberg, Ulm, schwäbisch Hall, Straßburg, Bremen, Breslau; und das Deutschordensland Preußen fiel ihm mit dem Hochmeister, Albrecht von Brandenburg, welcher weltlicher Fürst wurde, und mit zwei Bischöfen zu. Nach allen Seiten hin hatte L. Rath zu ertheilen, zu ermuntern oder Bedrängte und Verfolgte zu trösten. Schon jetzt erhob sich indessen auch die Frage, wie weit er seinen Grundsatz vom bloßen Wirken des Wortes und von der Beschränkung der weltlichen Gewalt aufs weltliche Gebiet, mit welchem eine neue Epoche christlicher Kirchengeschichte beginnen mußte, selbst in der ferneren Entwickelung der Verhältnisse werde durchführen können und wollen. In seiner nächsten Nähe, in Wittenberg, hielten einige Stiftsherren der Schloßkirche beharrlich ihren Meßgottesdienst fest. Das erklärte L. endlich doch für einen Greuel und gotteslästerlichen Gottesdienst, gegen welchen eine christliche Obrigkeit so gut als gegen andere öffentliche Gotteslästerung einschreiten müsse. Kurfürst Friedrich wollte auch hier nur das Wort Gottes kämpfen lassen. Jene wichen zuletzt 1524 dem Andringen der Universität und des Magistrats und vielleicht noch mehr den Drohungen der ausgeregten Bevölkerung.

In Hinsicht auf die Lehre und die dogmatische Polemik gegen die Scholastik und die römisch-katholische Tradition hatte L. wenig neues mehr vorzutragen, war indessen unermüdlich in weiteren Ausführungen. Wir haben namentlich aus dem Jahr 1522 noch eine Gegenschrift von ihm zu nennen gegen eine Schrift, in welcher Heinrich VIII. von England sein Buch von der babylonischen Gefangenschaft als Vertheidiger des Glaubens bestritten und beschimpft hatte. L. antwortete mit entsprechender Grobheit. Später, nämlich im J. 1525, ließ er sich bereden, daß der König jetzt bessere Gesinnungen hege und er deshalb durch einen Brief den allzu heftigen Angriff wieder gut machen sollte; so schrieb er dann wirklich an ihn, bekam aber nur Hohn und neuen Schimpf zur Antwort und schloß endlich den Handel mit dem Bekenntniß, daß er ein Schaf gewesen sei (im J. 1527).

[677] Auch diejenigen Elemente des damaligen Katholicismus aber, von denen man beim Beginn der Reformation am meisten Beihilfe hätte hoffen mögen, nämlich die Vertreter einer freien und doch den christlichen Boden festhaltenden humanistischen Wissenschaft, wandten jetzt theilweise und zwar vor Allem ihr Haupt Erasmus von jener sich ab. Die Entzweiung zwischen L. und Erasmus war überhaupt die wichtigste Wendung in dem Kampf, der zwischen L. und dem Katholicismus damals geführt wurde. Erasmus mißbilligte längst die Heftigkeit dieses Reformators, fürchtete für die Ruhe und das Gedeihen der von ihm selbst gepflegten edlen Wissenschaften, hielt die principiellen Angriffe auf die kirchlichen Autoritäten für unklug und gefährlich, so wenig er auch selbst mehr innerlich durch diese sich binden ließ, und wurde umsomehr dadurch aufgebracht und ängstlich, daß man ihn selbst für einen Mitschuldigen, ja gar Hauptanstifter der gefährlichen Bewegung verschrie. L. hatte bei ihm von Anfang an den rechten Sinn für die Grundlehren von Gottes Gnade und des Menschen Sünde vermißt und argwöhnte mehr und mehr bei ihm Falschheit und Feigheit. Noch besonders angetrieben durch hohe Gönner machte endlich Erasmus 1524 eben jene Lehre Luther’s vom völligen Geknechtetsein des menschlichen Willens durch die Sünde zum Gegenstand einer Streitschrift gegen ihn („De Libero arbitrio“). Sie, die übrigens wissenschaftlich wenig leistete, wurde für L. Anlaß, erst recht vollends seine eigenen Aussagen auf die Spitze zu treiben in seiner Schrift vom geknechteten Willen („De servo arbitrio“) 1525. Eine weitere Gegenschrift des Erasmus hat L. dann unerwidert gelassen, über seinen Charakter aber nur noch aufs bitterste geurtheilt.

Mehr Sorge und Noth als aller Widerstand, den er auf der katholischen Seite fand, bereitete dem Reformator andererseits jene Richtung, die ihn zur Rückkehr nach Wittenberg veranlaßt und von der er schon damals weit Schlimmeres, als bis jetzt offenbar werde, erwartet und vorhergesagt hatte.

Nach Luther’s Rückkehr beobachtete Carlstadt nur kurze Zeit eine unfreiwillige Ruhe. Er gab sich mehr und mehr jener mittelalterlichen Mystik hin, von welcher her L. nur die oben bezeichneten beschränkten und wahrhaft fruchtbaren Einwirkungen in sich aufgenommen und welche dagegen bei den Zwickauer Propheten zu trüber und wilder Schwärmerei geführt hatte. Er wollte nichts mehr von eitler menschlicher Gelehrsamkeit, akademischem Wirken etc. wissen, ließ sich als Bauer bei Wittenberg nieder und riß dann die mit der Universität verbundene Thüringische Pfarrei Orlamünde an sich. Da begeisterte er die Einwohner für seine unklaren Ideen und ließ sie namentlich wieder gemäß dem alttestamentlichen Gebot die Bilder in der Kirche zertrümmern.

Auch Streit über die Abendmahlslehre begann jetzt Carlstadt. Er bestritt im Interesse einer angeblich geistigeren Auffassung die von L. fest gehaltene Beziehung der Einsetzungsworte auf den in Brot und Wein wahrhaft gegenwärtigen Leib des Herrn. Eben damals verfocht L. diese wahre Gegenwart des Leibes auch den sogenannten böhmischen Brüdern gegenüber in einer Schrift „Vom Anbeten des Sakraments etc.“, 1523; und er war schon damals mit der Auffassung des Holländers Honius bekannt geworden, der jetzt in den Einsetzungsworten das „ist“ nur noch für „bedeutet“ nehmen wollte (wie nach ihm Zwingli). So begannen die Differenzen in Betreff der Abendmahlslehre auf dem Gebiete der Reformation, welche für die Entwickelung derselben bald so verhängnißvoll werden sollten.

Andererseits sah L. in dem Eifern fürs Bilderverbot ein schlecht äußerliches Treiben und Hängen am Buchstaben und zwar am alttestamentlichen. Carlstadt wollte auch wieder eine Sabbathruhe alttestamentlicher Art haben und fand nach alttestamentlichen Vorgängen Polygamie zulässig. Mit einer Anwendung mosaischer [678] Gesetzbestimmungen aufs bürgerliche und sociale Leben der Gegenwart gingen damals auch andere für Reformen eifernde Männer um: so wurde eine Einführung des mosaischen Jubeljahrs gefordert, wo alle verkauften Grundstücke wieder an die ursprünglichen Besitzer zurückfallen sollten.

Für die zuerst in Zwickau vorgetragenen Schwärmereien, welche nach allen diesen Beziehungen hin aufs äußerste gingen, wirkte jetzt als der weitaus energischste Vertreter derselben Thomas Münzer, der nach der Ausweisung aus Zwickau im mittleren und südlichen Deutschland herumgezogen war und 1523 eine Pfarrstelle in Allstedt erhielt. Carlstadt correspondirte mit ihm. Zum Reich der Heiligen, das er mit Gewalt aufrichten wollte, gehörte die Vertilgung der Gottlosen wie einst der alten Kananäer und Communismus für die Reichsgenossen.

Jene Ideen vom mosaischen Gesetz machten auch auf Kurfürst Friedrichs Bruder, Herzog Johann, dessen Hofprediger Stein in Weimar ihnen zugethan war, bedeutenden Eindruck. Sein Sohn Johann Friedrich veranlaßte L. zu einem Gutachten darüber.

Dem Treiben Carlstadt’s suchte L. 1524 persönlich in Orlamünde und dem benachbarten Kahla entgegenzutreten, fand jedoch bei den gegen ihn aufgeregten und erbitterten Leuten kein Gehör. Carlstadt wurde dann seines Amts enthoben und mußte das Land verlassen. Umsomehr suchte er in unstetem Umherziehen seine Grundsätze über Kultusreform und seine Abendmahlslehre auszubreiten. L. hörte jetzt, daß seinem Widerspruch gegen die wahre Gegenwart des Leibes im Sacrament namentlich auch Zwingli in Zürich und Oekolampad in Basel, wiewol mit einer anderen Erklärung der Einsetzungsworte, beistimmten. An die Christen in Straßburg verfaßte er ein gegen Carlstadt’s Umtriebe gerichtetes Sendschreiben. Die bedeutendste Schrift aber, zu der er jetzt sich veranlaßt sah, ist sein Buch „Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament“. Vorzüglich hier hat er nun auch seine eigene Stellung zu jenen mosaischen Ordnungen auseinander gesetzt und begründet, – einer seiner wichtigsten Beiträge für die protestantische Ethik und Auffassung des Rechtes. Christus ist ihm, wie Paulus sagt, des Gesetzes Ende, jenes ganze Gesetzeswesen für die Christen aufgehoben. Während die Christen nun den ewigen sittlichen Forderungen Gottes mit dem eigenen innern Trieb und Willen nachkommen, behalten jene äußeren alttestamentlichen Satzungen für sie nur insoweit Bedeutung und Geltung, als sie den Inhalt derselben eins finden mit dem ihnen ins Herz geschriebenen und durchs neue Testament bezeugten Gotteswillen. Dieselben sollen von ihnen so angesehen werden, wie auch die politischen und bürgerlichen Ordnungen anderer Völker; man dürfte sie nur so einführen, wie man auch sonst von anderen Völkern nach eigenem Urtheil und Gutdünken Gesetze entlehne.

Gegen Münzer wollte L., so lange derselbe der Gewaltthat sich noch enthalte, auch nur mit dem Worte gekämpft haben: man solle die Geister aufeinander platzen lassen. Im folgenden Winter nun wußte Münzer sich mit seinen Genossen in der thüringischen Stadt Mühlhausen die Herrschaft zu verschaffen und eine große Erhebung vorzubereiten, während in Süddeutschland schon seit dem Herbst ein Bauernaufstand ausgebrochen war und weiter sich verbreitete. Von hier aus kamen an L. die noch sehr gemäßigten und von Münzerischem Fanatismus freien zwölf Artikel der Bauernschaft. Er verfaßte darauf im April 1525 „Eine Ermahnung zum Frieden etc.“, die Bauern ermahnend, daß ihre Forderungen mit dem Evangelium nichts zu thun haben und nicht mit Gewalt ertrotzt werden dürften, zugleich die geistlichen und weltlichen Tyrannen scharf verwarnend. Eben jetzt aber trafen Nachrichten von den Gräueln ein, welche dort schon in wildem Aufruhr von den Bauern verübt wurden, und zugleich rückte Münzer mit fanatischen [679] Schaaren als ein Streiter Gottes zu unbarmherziger Vernichtung der Gottlosen aus und die ganze Bauernschaft umher gerieth in Bewegung und Aufregung. L., der damals wegen Einrichtung einer Schule in Eisleben war, trat an verschiedenen Orten predigend unter die Menge. Jetzt, als die Aufrührer sich nicht zurückhalten ließen, schrieb er „wider die mörderischen Rotten der Bauern“: die Obrigkeit müsse das ihr von Gott befohlene Amt mit Stechen, Schlagen und Würgen gegen dieses teuflische Treiben behaupten und ihre Unterthanen dagegen schützen. Nach der Niederlage, die Münzer schon am 15. Mai erlitt, und unter den Grausamkeiten, mit welchen in den meisten Theilen Deutschlands die siegreichen Herren an den überall unterliegenden Bauern sich rächten, erhoben sich gegen L. von verschiedenen Seiten her Vorwürfe wegen jener harten, unbarmherzigen Reden. Er wies sie ab in einem „Sendbrief“. Den Lästerern hat er jedenfalls das mit gutem Recht entgegnet, daß er nur Schärfe gegen die teuflisch drohenden Aufrührer, nicht Härte gegen die Ueberwundenen gefordert habe. Gnade empfahl er dann nach dem Sieg auch für die Schuldigen.

Noch während des Aufruhrs war Luther’s treuer Kurfürst am 5. Mai verschieden, nachdem auf dem Todtenbett auch er zum ersten Mal das Abendmahl in der evangelischen Weise sich hatte reichen lassen.

In dieser furchtbar bewegten Zeit faßte L. den Entschluß, ins eheliche Leben einzutreten, das er längst als einen von Gott verordneten heiligen Stand Anderen empfohlen hatte, ohne daß Feind oder Freund bei ihm selbst eine Neigung dazu hätten wahrnehmen und auch der erbittertste Haß seiner Feinde Stoff zu Lästerungen gegen ihn nach dieser Seite hin hätte finden können. Er verhehlte nicht, wie auch er ein Bedürfniß jenes Lebens als Mann empfinde. Hauptsache aber war ihm, seine Lehre so auch noch durch die eigene That zu besiegeln, ehe ein baldiger Tod es ihm unmöglich machen könnte. Rasch, ehe loses Gerede dazwischen käme, vollzog er seinen Entschluß, indem er am 13. Juni 1525 mit der früheren Nonne Katharina v. Bora, die seit ihrem Austritt aus dem Kloster 1523 still in einem Wittenberger Bürgerhause lebte, sich vermählte (s. d. Art. Bora Bd. III S. 151).

Den Bauernaufstand benutzten die der neuen Lehre feindseligen Fürsten und Herren, um mit ihm auch diese zu unterdrücken, die durch die Predigt von der evangelischen Freiheit zu ihm Anlaß gegeben habe. Aber sie hatten damit keinen Erfolg denjenigen Gebieten gegenüber, wo diese schon herrschend geworden war, wie namentlich in Kursachsen. Kurfürst Johann war mit L. der Ueberzeugung, daß nur Mißbrauch und Mißdeutung solche böse Früchte aus ihr habe ziehen können, und jenen wurde vorgeworfen, daß gerade sie durch ihre tyrannische Unterdrückung der Wahrheit den großen Brand verschuldet haben; konnte doch L. auch darauf verweisen, daß dieser da, wo man das Evangelium nicht zugelassen habe, weit gefährlicher geworden sei. Und gerade der neue Kurfürst war nun entschlossen auch positiv als Regent für die kirchlichen Reformen zu wirken und sie durchzuführen, während sein Bruder und Vorgänger sich darauf beschränkt hatte der evangelischen Predigt Freiheit und Sicherheit zu gewähren. Schon bald nach seinem Regierungsantritt verfügte Johann zunächst für den Kreis seiner Residenz Weimar, daß fortan das lautere Evangelium ohne menschliche Zuthat gepredigt werden solle. Eben jetzt trat ferner der energische und feurige junge Landgraf Philipp von Hessen, der sich besonders um die Dämpfung des Aufstands verdient gemacht hatte, der evangelischen Lehre bei. Der Gefahr gegenüber, welche von Seiten des Kaisers und der römisch-gesinnten Reichsstände drohte, verbündeten sich die beiden in Torgau. Der Reichstag zu Speyer aber führte unter dem Einfluß der politischen Lage statt zur Einschärfung des Wormser Ediktes vielmehr zu dem Beschluß, daß bis auf ein Concil jeder Reichsstand in [680] dieser Sache so sich verhalten möge, wie er es gegen Gott und den Kaiser verantworten zu können sich getraue. Damit war die rechtliche Grundlage für die Fürsten, welche die Reformen in die Hand nehmen wollten, gegeben.

Zwischen den allgemeinen kirchlichen Principien aber, die der Reformator L. von Anfang an vorgetragen hatte, seiner Lehre von der im Gebrauch des Worts und der Sacramente verbundenen Gemeinde der Gläubigen, vom allgemeinen Priesterthum etc., und zwischen der concreten kirchlichen Organisation, um die es jetzt sich handelte, lagen nun die geschichtlichen Vorgänge und Erfahrungen der letztvergangenen Jahre und die gegenwärtigen Zustände des Volkes, dem bisher das Wort gepredigt worden war. Wie L. selbst anfangs den neuen Kaiser Karl hoffnungsvoll begrüßt hatte, so konnte man damals noch die Hoffnung einer durch Kaiser und Reich vorzunehmenden Reform hegen, und namentlich Friedrich der Weise hielt wol mit seinen innigsten Wünschen an ihr fest; inzwischen hatten im Reich die Gegensätze sich verschärft, die Altkirchlichen sich fester zusammengeschlossen und der Kaiser entschieden und für immer gegen eine Reformation in Luther’s Sinn Stellung genommen. Die Erwartungen, welche man in dieser Hinsicht auf den deutschen Adel im Gedanken an Männer wie Sickingen setzen konnte, waren mit diesem dahin.

Von den Humanisten, den damaligen Trägern der modernen wissenschaftlichen Bildung, löste sich ein Theil mit Erasmus von den reformatorisch kirchlichen Bestrebungen ab, verdrossen darüber, daß unter denselben ihre eigenen Studien litten, auch sich stoßend an wirklich übeln Früchten, welche ein angeblich reformatorischer Eifer und evangelische Freiheit da und dort trug. Ueber die Mängel und Schäden inmitten derer, welche äußerlich zu seiner Sache sich hielten, täuschte L. selbst sich am wenigsten. Er klagte über den Mangel an wahrem, lebendigem Christenthum, nur daß er darin keineswegs ein Zeugniß gegen die Wahrheit und Kraft des Evangeliums sehen und keineswegs die Zustände bei den Altkirchlichen befriedigender finden konnte. Der Bauernaufstand gab ihm vollends einen traurigen Einblick in die bisherige Verwahrlosung, Unreife und Rohheit der Massen. Dazu drohte, indem die bisherigen kirchlichen Autoritäten dahinfielen, eine Auflösung der kirchlichen Ordnung überhaupt, Versiegen der kirchlichen Einkünfte, Verschleuderung und Beraubung der kirchlichen Güter. Eine wahrhafte, zu eigener Organisation befähigte christliche Gemeinde in Luther’s Sinn existirte hier nicht. Um so dringender war für ihn das Bedürfniß, daß wenigstens Einrichtungen zu ordentlicher Predigt des Wortes für dieses Volk getroffen würden. Die Landesobrigkeit, d. h. der Kurfürst, fand sich dazu bereit. L. bat ihn, eine Visitation der Kirche für jene Zwecke vornehmen zu lassen.

Verschiedene Gesichtspunkte wirkten bei der Wendung, welche Luther’s kirchliche Ideen in ihrer Anwendung auf die Gegenwart nahmen, zusammen. Ein Einschreiten der Obrigkeit gegen den papistischen Kultus rechtfertigte er, wie wir schon sahen, jetzt damit, daß dieselbe, ohne jemand zum Glauben zwingen zu dürfen, doch Gotteslästerungen und anderen derartigen Aergernissen wehren müsse. Auch schon die Pflicht der Obrigkeit, Zwietracht, Unruhen und Rotten von ihren Unterthanen fern zu halten, machte er jetzt für obrigkeitliche Maßregeln auf dem kirchlichen Gebiet, gegen Papisten und Schwärmer, geltend. Tiefer faßte er den Beruf des Staates, oder, wie er sagt, des Fürsten, indem er diesen als den obersten Vormund der Jugend und aller, die der Bevormundung bedurften, bezeichnete. Er dachte, während er die landesherrliche Gesetzgebung und Gewalt für die kirchliche Ordnung des ganzen Landes in Anspruch nahm, anfangs zugleich noch daran, aus der großen Menge derjenigen heraus, für welche dieses Landesgesetz jetzt die nöthigsten Kultusänderungen mit Rücksicht auf ihre fortwährende Unreife verfüge, mit der Zeit die ächten Christen von selbständiger [681] Ueberzeugung zu besonderen freiwilligen Gemeinschaften zu sammeln, wo ein den evangelischen Grundsätzen noch entsprechender Gottesdienst von ihnen veranstaltet und besonders auch christliche Zucht unter den Gliedern geübt werden sollte. Davon sprach er namentlich in seiner „Deutschen Messe“ 1526. Als die hessische Synode in Homberg 1526 wirklich die Herstellung evangelischer Gemeinden durch freiwilligen Beitritt der einzelnen Gläubigen und die Ausübung apostolischer Zucht in denselben beantragte, verwarf L. dies nicht an sich, sondern fand nur die Menschen und die Verhältnisse nicht dazu angethan. Noch während die kursächsische Kirchenvisitation ins Leben gerufen wurde, sprach er von jener „Sammlung der Christen“. Ferner äußerte er sich anfangs noch dahin, daß man bei der Visitation nur da, wo man bei den Leuten den Wunsch nach evangelischer Predigt finde, ihnen Prediger geben solle. Dann aber fand er es nöthig die Gemeinden überall von Obrigkeitswegen mit evangelischen Geistlichen zu versehen und zum Unterhalt derselben zu verpflichten, während papistisch gesinnte Prediger im Lande nicht mehr geduldet wurden. Von jener Sammlung war bei ihm nicht weiter die Rede, seit die ersten Ergebnisse der Visitation vorlagen, welche ihm das Vertrauen zur damaligen Bevölkerung in dieser Hinsicht vollends nahmen.

Daß die landesherrliche Gewalt die Durchführung der Reformen bis ins Einzelne in die Hand nehmen und sodann in der neuen kirchlichen Verfassung selbst das Kirchenregiment ausüben sollte, war auch in den bisher von uns bemerkten Grundsätzen Luther’s noch nicht nothwendig enthalten. Es ließ sich von diesen Grundsätzen aus ein anderes Verfahren denken, wenn entweder, wie L. in jener Schrift an die Böhmen hoffte, auf einer reifen und tüchtigen Grundlage der Gemeinden und ihres geistlichen Amtes ein neuer, etwa mit Synoden verbundener Episcopat für die fernere Leitung der Landeskirche oder auch Nationalkirche sich herstellen ließ, oder wenn der bisher mit Rom verbundene Episcopat selbst noch der evangelischen Lehre und den kirchlichen Principien der Reformation beitrat. So erklärte dann L., als der Kurfürst selbst die ganze Visitation veranstaltete: die Noth habe dazu gedrängt, da die Bischöfe oder die bisher bestellten Aufseher der Kirche ihre Schuldigkeit nicht haben thun wollen; der Fürst möge es thun aus Liebe und um Gotteswillen, indem sonst Niemand den dazu erforderlichen öffentlichen Beruf habe. So hat er nachher die Fürsten auch als Nothbischöfe bezeichnet. Auch dies übrigens hatte tieferen inneren Zusammenhang mit der ihm eigenthümlichen Idee von der Kirche und zugleich vom Staat. War doch dem, worin für ihn das ganze eigentliche Wesen der Kirche bestand, durch die Predigt und das innere geistliche Wirken des göttlichen Wortes und die Herstellung einer ans Wort glaubenden Gemeinde schon völlig genügt, während daneben alle die äußeren Ordnungen, Verwaltungsmaßregeln etc. nur als etwas untergeordnetes und relativ gleichgültiges erschienen. Andererseits wurde von ihm als das Gebiet des Staates oder der weltlichen Obrigkeit so allgemein das äußere Leben und die äußere Ordnung bezeichnet, daß dann um so leichter auch die äußeren für die Kirche nöthigen Ordnungen und regimentlichen Thätigkeiten, für welche in der Gegenwart kein anderes Subject bestand, mit in den obrigkeitlichen Beruf gezogen werden konnten.

So haben jetzt bei L. die praktischen Grundsätze, nach welchen der Aufbau der lutherisch deutschen Kirche vor sich ging, unter dem Einfluß der Zeitverhältnisse sich gestaltet. Die Kirchenvisitation ging in den Jahren 1527–1529 in den kursächsischen Landen vor sich, wozu diese in mehrere Kreise mit verschiedenen Visitationscommissionen getheilt wurden. Melanchthon verfaßte dazu als officielle Schrift einen „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn“. L. versah sie mit einem Vorwort. Seit October 1528 wirkte er auch selbst einige Zeit in dem Kreis, zu welchem Wittenberg gehörte, als Visitator. Um einem großen Nothstand, [682] der sowol bei den Pfarrern als den Gemeinden sich herausstellte, abzuhelfen, verfaßte er 1529 seinen großen Katechismus zur Anweisung der Pfarrer, wie sie die Hauptstücke des christlichen Glaubens zu verstehen und zu lehren hätten und seinen kleinen Katechismus, der den Inhalt jener Hauptstücke für das Bedürfniß von Kindern und Einfältigen kurz in Fragen und Antworten darlegen wollte. Zur Abfassung eines solchen christlichen Unterrichts fürs Volk hatte er schon früher Freunde anzuregen versucht und es waren auch schon Katechismen vor dem seinigen erscheinen. In schlichter, praktischer, volksthümlicher Ausführung und zugleich im Hervorheben des allgemein Christlichen und im zweckmäßigen Anschluß ans Ueberlieferte hat er alle anderen übertroffen.

Eine Anweisung für den Gottesdienst, wie dieser ganz in deutscher Sprache zu halten sei, hatte er schon in jener Schrift „Deutsche Messe“ gegeben; doch gefielen ihm daneben immer noch auch lateinische Gesänge der Schüler. Der Kurfürst verfügte, daß die Geistlichen allgemein darnach sich richten sollten, L. selbst indessen blieb dabei, daß man eine Gleichförmigkeit in den einzelnen Ceremonien nicht zum Gesetz machen dürfe.

Jener Visitatorenunterricht gab zu einem ersten Lehrstreit auch unter Luther’s nächsten Freunden Anlaß. Johann Agricola, damals Rector in Eisleben, stieß sich nämlich daran, daß nach demselben die Leute zuerst durch den Vorhalt des göttlichen Gesetzes zur Buße getrieben werden sollten, während doch nach der evangelischen Ueberzeugung alles Heil nur durchs Evangelium, d. h. durchs Wort der göttlichen Gnade gewirkt werden könne. L., dessen Sätze von ihm mißverstanden und überspannt worden waren, brachte ihn damals noch zur Ruhe.

Inzwischen entwickelte sich der Streit über das Abendmahl, welchen wir zuerst zwischen Carlstadt und L. sich erheben sahen, zwischen L. einerseits und Zwingli und Oekolampad andererseits in verhängnißvoller Weise weiter. Bedeutungsvoll dabei blieb vor allem jener Zusammenhang, in welchem Zwingli für L. von Anfang an mit Carlstadt erschien, so wenig auch Zwingli’s Geistesrichtung mit subjectivistischer Schwärmerei zu thun hatte. Zwingli wurde ihm verdächtig, daß er auch über andere Hauptstücke, wie über die Taufe, das Gnadenmittel des göttlichen Wortes, ferner die Erbsünde „ungeschickte Dinge lehre“. Dazu griff Zwingli’s Anschauung bei den Oberdeutschen, d. h. in bedeutenden evangelisch gesinnten Städten Südwestdeutschlands, wie Straßburg, Ulm, Augsburg, gefährlich um sich. Es war auch nicht etwa eine allgemeine buchstäbliche und gar knechtische Auffassung des Schriftwortes, vermöge deren L. gegen jenen darauf bestand, daß der Leib Christi im Brot und Wein wirklich gegenwärtig sei und das Brot den Leib nicht blos bedeute oder ein Sinnbild für ihn sein solle. In anderen Beziehungen, wie beim Verbot der Bilder, blieb vielmehr Zwingli am Buchstaben hängen. Dort, bei den Einsetzungsworten des Herrn, mit welchen dieser seinen zur Vergebung unserer Sünden hingegebenen Leib als Pfand der Vergebung uns darbiete, schien L. die Gewißheit der Heilsverheißung selbst gefährdet, wenn man einmal sich unterfange, den einfachen Wortsinn umzudeuten. Dazu sah er in Zwingli’s Widerspruch gegen eine solche wunderbare Gegenwart des Leibes eine böse Scheidung zwischen dem Menschlichen und Göttlichen in Christi Person überhaupt, während unser Heil gerade am innigsten, völligen Eingehen Gottes in den Menschensohn und seine Menschheit hänge.

L. trat zuerst nur in der Vorrede zu einer gegen Oekolampad gerichteten Schrift befreundeter schwäbischer Theologen 1526 und dann in einem gedruckten Sermon öffentlich gegen die Zwingli’sche Lehre auf, indem er ihre Anhänger mit dem Namen Schwärmgeister belegte. Sogleich folgten sich dann Schriften und Gegenschriften von beiden Seiten, von Luther’s Seite immer gleich heftig und verdammend, von Seiten Zwingli’s anfangs in weit ruhigerem Tone, ja mit [683] freundlich klingenden Worten, die jedoch durch hochfahrende, schulmeisterliche Manier nur um so mehr verletzten, dann gleichfalls mit derber und rücksichtsloser Polemik. Nachdem L. 1528 seine größte Schrift in dieser Sache, sein sogenanntes „Großes Bekenntniß vom Abendmahl“ veröffentlicht hatte, wollte er mit den ferneren Gegenschriften nichts mehr zu thun haben und schwieg auf sie.

Gerade jetzt aber mußte der Reichstagsbeschluß von Speier 1529, der dem Fortschritt der Reformation wehrte und ihren Bestand bedrohte, und ein vom Kaiser mit Frankreich und dem Papst abgeschlossener Friede, nach welchem derselbe endlich energisch gegen jene einschreiten wollte, für jeden Protestanten, der an menschliche Hilfsmittel gegen solche Gefahren dachte, eine Einigung und ein Schutzbündniß zwischen den lutherisch gesinnten Reichsständen und jenen Schweizern, besonders Zürichern, und Oberdeutschen, zum Gegenstand des dringendsten Wunsches und Strebens machen. Landgraf Philipp brachte es dahin, daß L. trotz stärkster innerer Abneigung nebst Melanchthon sich zu einem Gespräche mit Zwingli und Oekolampad herbei ließ, das auf seinem Schlosse zu Marburg zu Anfang Octobers 1529 abgehalten wurde. Luther’s schlimme Voraussetzungen und Erwartungen wurden hier insoweit widerlegt, als hinsichtlich aller anderen in Frage stehenden Lehrpunkte eine Vereinbarung in Kürze zu stande kam. Darüber aber, ob der wahre Leib Christi leiblich im Brote sei, blieb der Zwiespalt bestehen und deshalb erklärte L., für Brüder in Christo könne er die Schweizer auch jetzt nicht anerkennen, wiewol er ihnen allgemeine christliche Liebe und Freundschaft erzeigen wolle.

Hierdurch wurde auch ein politisches Bündniß mit jenen unmöglich, da namentlich Kurfürst Johann ebenso wie L. es mit dem noch fortbestehenden inneren Gegensatz unverträglich fand. L. übrigens war auch an sich jedem solchen Bündniß abgeneigt. Von dem gewaltsamen Widerstand gegen die kaiserliche Obrigkeit, zu welchem es im Nothfall hätte dienen sollen, erklärte er unbedingt, daß derselbe für Christen unzulässig wäre: denn man müsse der Obrigkeit unterthan bleiben und im Nothfall Unrecht von ihr erdulden.

In derselben Zeit bedrohte ein gewaltiger Heereszug der Türken Deutschland und vor Allem die Lande Ferdinands, des Bruders des Kaisers. So war wenigstens hierdurch der Kaiser noch in seinem Vorhaben gegen die Protestanten gelähmt. L. aber erhob sich hier zu mächtigen Mahnrufen, die einzig der Gefahr des Vaterlandes und der gesammten deutschen Christenheit galten. So schrieb er 1529 „Vom Kriege wider die Türken“ und gleich nach dem Marburger Gespräch eine „Heerpredigt wider den Türken“.

In seiner Zugehörigkeit zur Universität hatte L. gleich nach Kurfürst Johanns Regierungsantritt seinen Einfluß auf diesen sorglich zu ihrem Besten, zu Reformen und besonders zu Ausbesserungen gewisser Professuren geltend gemacht. – Als Prediger übernahm er sehr große Arbeit, ja drei bis vier wöchentliche Predigten an Bugenhagen’s Stelle, als dieser 1528 zu reformatorischen Arbeiten in die Stadt Braunschweig und weiter nach Hamburg berufen wurde. Seine Kirchenpostille kam erst 1527 zum Abschluß, nachdem er die Herausgabe seiner Predigten fürs Sommerhalbjahr und die Feiertage seinem Freunde Roth übertragen hatte. Sie konnte so bei der Kirchenvisitation den neu bestellten Geistlichen als sehr werthvolles Hülfsmittel dienen.

Mit seiner Frau blieb L. im Klostergebäude wohnen, das der Kurfürst ihm zu eigen gab. Er durfte sich freuen in ihr eine gesunde, verständige, praktische, liebreiche und dienstfertige Gehilfin für sein persönliches Leben und die leiblichen und psychischen Leiden desselben gefunden zu haben; auch in seinen Verkehr mit seinen Freunden trat sie mit ein. Am 7. Juni 1526 gebar sie ihm ein erstes Kind, Johannes oder Hans (er ist 1575 als Jurist in preußischen Diensten zu Königsberg gestorben). Nachher folgten noch fünf Kinder, nämlich 1527 [684] Elisabeth, die ihm schon nach acht Monaten wieder entrissen wurde, 1529 Magdalene, eine ihm besonders theure Tochter, deren Tod 1542 ihn sehr bewegte, 1531 Martin († als Privatmann 1565), 1533 Paul (Arzt bei verschiedenen Fürsten, † 1592) und 1534 Margarethe († als verehelichte v. Kulheim 1570). – Ein sehr heftiger und gefährlicher Krankheitsfall, verbunden mit schweren Anfechtungen der Seele, befiel ihn 1527, und lange noch hatte er an den Folgen mit Leib und Seele zu leiden. Es waren, was das Leibliche betrifft, Beengungen der Brust mit Andrang des Blutes gegen das Herz und Brausen und Schwindel im Kopf. Aehnliche Erscheinungen sind dann immer bei ihm wiedergekehrt. Während er noch sehr leidend war, brach im Spätsommer jenes Jahres eine Pest in Wittenberg aus, um derenwillen die Universität nach Jena geflüchtet wurde. L. aber blieb zurück, um dem Stadtpfarrer in der jetzt um so nöthigeren Fürsorge für die Gemeinde beizustehen. – Wol noch in diesem so schweren Jahre, in welchem auch sein Glaubensgenosse Leonhard Käser zu Scherding den Märtyrertod durchs Feuer erlitt, hat L. das Lied „Ein feste Burg“ gedichtet (vgl. Knaake in Luthardt’s Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft und kirchliches Leben, 1881, Heft 1; nach Anderen im J. 1529, nach Anderen 1528; jedenfalls stand es schon in dem 1529 gedruckten Klug’schen Gesangbuch).

In dem großen kirchlichen Kampfe schien endlich eine Entscheidung anzubrechen, als der Kaiser selbst 1530 nach Deutschland kam, um einen Reichstag in Augsburg abzuhalten. Kurfürst Johann beauftragte L. und andere Theologen, ihm nach des Kaisers Wunsch Artikel abzufassen, die als Ausdruck ihrer Gesinnung dort vorgelegt werden sollten. Von Luther’s Hand lagen bereits 15 Artikel vor, die er in Marburg aufgesetzt hatte und die dort mit Ausnahme des einen vom Abendmahl allgemein angenommen worden waren, ferner 17 Artikel, zu welchen jene gleich nachher von ihm für einen Convent der protestantischen Verbündeten in Schwabach waren umgearbeitet worden. Als der Kurfürst zum Reichstag reiste, begleitete ihn L. bis an die Grenze seines Gebietes nach Koburg, während ein Erscheinen des Geächteten in Augsburg natürlich unzulässig war. Er verweilte so auf der Veste Koburg vom 23. April bis 5. October. Von dort blieb er in stetem Verkehr mit dem Kurfürsten und seinen Begleitern in Augsburg. Melanchthon, dem jetzt die Herstellung einer Bekenntnißschrift übertragen war, legte dem ersten dogmatischen Haupttheil der Confession wesentlich jene Schwabacher Artikel zu Grunde. Seine Schrift zeigte eine Vorsicht und Mäßigung, die einem L. den Papisten gegenüber schwerlich möglich gewesen wäre, wurde aber auch von ihm gutgeheißen. Mit erhabener Glaubenszuversicht ermunterte er von dort aus die Freunde. Als Melanchthon unter diesen sich ängstlich und gar zu geneigt zum äußersten Nachgeben zeigte, bat L. die anderen um milde Rücksicht auf denselben, während er seinerseits erklärte keinerlei falsche Vermittelung zuzulassen. Im September erschien eines Tags auch Butzer auf Koburg, um L. womöglich für eine Einigung mit den Oberdeutschen, die ein besonderes Bekenntniß (das „Vier-Städte-Bekenntniß“) abgegeben hatten, zu gewinnen; es gelang ihm nicht Luther’s Mißtrauen zu überwinden, doch sprach dieser wenigstens seinen herzlichen Wunsch nach Eintracht aus.

Im Reichstagsabschied wurde den Protestanten nur noch eine Bedenkzeit bis zum 15. April des nächsten Jahres zugestanden, während der Kaiser dem Papst gegenüber sich zu Gewaltmaßregeln gegen sie anheischig machte. Bei den Berathungen über eine Gegenwehr aber, welche unter ihnen jetzt angelegentlich betrieben wurden, ließ L. nun doch von jenem unbedingten Widerspruch gegen eine solche ab, denn er wurde belehrt, daß nach dem bestehenden Reichsrecht selbst der Kaiser keineswegs eine unumschränkte Obrigkeit sei und wollte das Urtheil [685] über die Rechtsfrage den Juristen anheimgeben, während er selbst als Prediger des göttlichen Wortes nur dazu sich berufen fand, das Gewissen für diese Ueberlegungen zu schärfen und wenigstens zu möglichster Erhaltung des Friedens zu mahnen. Jetzt gestand er ferner auf die neuen Erklärungen hin, welche die Oberdeutschen durch Butzer in Betreff des Abendmahls abgaben, obgleich er darin noch nicht die volle Wahrheit anerkannt sah, doch zu, daß man sie in ein Bündniß, den schmalkaldischen Bund, aufnehme. Wiederum aber war es die politische Lage, welche den Kaiser den Krieg nicht wagen ließ. Im Sommer 1532 kam vielmehr der Nürnberger Religionsfriede zu Stande. Es wurde dadurch bis auf Weiteres gewährt, was L. schon 1530 als das allein Erreichbare bezeichnet hatte, bürgerliche oder staatliche Eintracht trotz fortbestehenden kirchlichen Zwiespalts. Er selbst hatte zu dem Abkommen namentlich dadurch sehr viel beigetragen, daß er die Seinigen ermahnte bei einem Frieden für die gegenwärtigen Bekenner des Protestantismus ohne Rücksicht auf die, welche ihm später noch zufallen möchten, sich zu begnügen.

Gleich darauf starb Kurfürst Johann. Sein Sohn und Nachfolger Johann Friedrich war schon von Jugend auf dem Reformator in Verehrung zugethan und befreundet. Zu gleicher Zeit traten die benachbarten anhaltischen Fürsten der Reformation bei und pflegten fortan ein warmes freundschaftliches Verhältniß mit L.

Die Verhandlungen über den großen kirchlichen Zwiespalt im Deutschen Reich und zugleich die Frage nach einer Einigung unter den Protestanten selbst in Deutschland und der Schweiz mußten auch fernerhin stets der Hauptgegenstand der Sorge und Arbeit für den Reformator bleiben. Sein weiteres Leben verstoß indessen verhältnißmäßig stiller und einförmiger als in den Jahren der ersten großen Kämpfe, der persönlichen Entwickelung und neuen kirchlichen Organisation. Seine dogmatischen und kirchlichen Grundsätze waren zur vollen Entfaltung bei ihm gekommen. Er selbst fühlte sich unter Streit, Unruhe, Anstrengung und körperlichen Leiden schon frühe gealtert. Namentlich wurde er fort und fort durch Schwindelanfälle belästigt. Auf einen Sieg und Triumph seiner Grundsätze in der gegenwärtigen Welt und Christenheit hatte er sich nie Hoffnung gemacht. Sein Blick blieb, wie wir schon früher bemerkten, immer auf ein nahes Weltende hin gerichtet, wo Gott selbst den neutestamentlichen Verheißungen gemäß einschreiten, den Antichrist stürzen und sein herrliches und seliges Reich aufrichten werde.

Karls V. Hauptanliegen war jetzt ein Concil, dessen Autorität die Protestanten zur kirchlichen Einheit zurückführen und das wirkliche Reformen nach seinem Sinn vornehmen sollte. Papst Clemens ging nur mit innerem Widerstreben und mit der geheimen Absicht, es dennoch zu vereiteln, daraus ein. L. wollte von einem Concil nichts wissen, das, wie ein päpstliches Ausschreiben 1533 sagte, nach dem alten Brauch gehalten werden sollte, hielt es jedoch fürs beste, die Antwort auf die Einladung vorsichtig hinzuziehen. Um so strenger wollte er einstweilen jenen politischen Frieden im Reich von Seiten der Protestanten eingehalten wissen. So mißbilligte er es auch, als Landgraf Philipp 1534 seinen Kriegszug nach Württemberg unternahm, wodurch er dieses Land dem Herzog Ulrich wiedergewann und hiermit der Reformation zuführte. Ernstlicher ging Papst Paul III. mit einem Concil um. Sein Gesandter, Cardinal Vergerius, der deshalb in Deutschland reiste, wollte sogar, indem er den Weg über Wittenberg nahm, hier den verdammten Ketzer L. selbst sprechen, was am 7. November 1535 bei einem Frühmahl im Schlosse geschah. Was er damit eigentlich erreichen, ob er auf L. positiv einwirken oder ihn wenigstens von einer ungünstigen Einwirkung auf die protestantischen Fürsten zurückhalten zu können [686] meinte, ist nicht klar. L. war gegen ihn kurz angebunden, erklärte sich jedoch bereit auch selbst, wenn es sein solle, auf dem Concil zu erscheinen. Als dasselbe 1536 wirklich nach Mantua ausgeschrieben wurde, stimmte er, obgleich der Papst als Zweck geradezu die Ausrottung der lutherischen Pest bezeichnete, doch beim Kurfürsten dafür, es zu beschicken.

Inzwischen setzte Butzer eifrig seine Unionsversuche fort. Einerseits war für sie der unglückliche Tod Zwingli’s sehr günstig; andererseits zeigte auch L. jetzt ein warmes Herz für die Sache und war für sie durch Briefe thätig; nur immer auch voll Vorsicht, daß der für ihn feststehenden Wahrheit nichts vergeben werde. So wurde denn endlich 1536 in Wittenberg zwischen ihm und zwischen Butzer und anderen Vertretern der Oberdeutschen eine Concordie abgeschlossen. Diese, welche im Unterschied von Zwingli mit L. die göttliche Heilsgabe als Hauptsache im Sacrament ansahen, jedoch ihrerseits dabei nur an eine geistige Speisung der Seelen im Glauben denken wollten, gingen jetzt auch auf den Satz ein, daß im Sacrament auch die Unwürdigen den Leib des Herrn wirklich genießen. Dagegen ließ es L. hingehen, daß in den von ihnen angenommenen Sätzen wenigstens von einem Genuß von ganz Gottlosen oder Ungläubigen nichts gesagt wurde, was doch fern zu halten für Butzer wichtig war. Schweizerische Gesandte waren hierbei nicht betheiligt. Mit ihnen sollte Butzer die Verhandlungen weiter führen; auch schrieb L. freundlich deshalb an den Basler Bürgermeister Meyer. Ueber den Erfolg wollte Butzer ihm auf einem nach Schmalkalden ausgeschriebenen Convent der Schmalkalder Verbündeten berichten.

Der Hauptgegenstand dieses Conventes im J. 1537 war Berathung über ein gemeinsames Verhalten dem Concil gegenüber. L. hatte zuvor nach dem Wunsch seines Fürsten in Artikeln, welche nachher unter dem Namen der Schmalkalder Artikel veröffentlicht worden sind, das, was vor dem Concil behauptet werden mußte, ausgeführt. Sie enthalten das schärfste Bekenntniß gegen den Papst, den rechten Widerchrist, und seine Abgöttereien, besonders den Gräuel der Messe. Für eine Beschickung des Concils jedoch erklärte er sich auch jetzt, um auf ihm wenigstens christliches Zeugniß und Protest ablegen zu können. Aber an den Verhandlungen der Verbündeten konnte er nicht mehr Theil nehmen, da er an Steinbeschwerden aufs heftigste und, wie es schien, hoffnungslos erkrankte. Am 26. Februar reiste man mit ihm noch aus Schmalkalden weg der Heimath zu. Die Verbündeten beschlossen hernach sich vom Concil fern zu halten. Bei ihm trat indessen unterwegs eine glückliche Wendung der Krankheit ein. Da hatte dann Butzer in Gotha noch eine Zusammenkunft mit ihm: er mußte ihm mittheilen, daß die Schweizer für sein freundliches Verhalten dankten und Eintracht wünschten und hofften, ihre Bedenken gegen die Wittenberger Sätze jedoch nicht aufgaben. Dem gegenüber warnte L. ernstlich vor jedem Bemänteln der noch vorhandenen Differenzen, wollte jedoch auch so Frieden und Freundschaft halten und hoffte, daß man, wenn die Leidenschaften sich legten, mit der Zeit sich noch näher komme. Im gleichen Sinn äußerte er sich brieflich direct gegen die Schweizer. Damit hatten die Vermittlungsversuche ihren Höhepunkt erreicht. Für Lutheraner wie Amsdorf und Osiander war L. schon hiermit zu weit gegangen.

Auch mit den böhmischen Brüdern, gegen welche L. schon in den ersten Anfängen der Abendmahlsstreitigkeiten seine Lehre zu behaupten sich veranlaßt sah und welche nun unter ihrem Senior Augusta Gemeinschaft mit ihm suchten, pflegte er jetzt brüderlichen Verkehr, obgleich ihre Auffassung von der Gegenwart des Leibes im Abendmahl immer von der seinigen verschieden blieb und vielmehr mit der früher von Wiclif vorgetragenen und der hernach von Calvin aufgestellten [687] zusammentraf. Er schrieb Vorreden zu zwei Bekenntnißschriften derselben 1533 und 1538.

Die Fragen über das Concil veranlaßten L. zu einer Schrift „Von den Conciliis und Kirchen“, 1539, einer neuen, umfassenden Ausführung seiner Lehre von der Kirche überhaupt. – Während das Concil nicht zu stande kam und die politischen Verhältnisse den Kaiser fortwährend von gewaltsamen Schritten zurückhielten, durfte L. 1539 eines friedlichen Sieges der Reformation in zwei wichtigen deutschen Ländern, dem Herzogthum Sachsen und dem Kurfürstenthum Brandenburg, sich freuen. In beiden erfolgte derselbe durch evangelisch gesinnte, mit L. befreundete Nachfolger streng katholischer Fürsten. Mit Herzog Georg von Sachsen, diesem nächsten Nachbar, hatte L. wiederholte Händel gehabt mit beleidigenden Publikationen von beiden Seiten: so nach seiner Rückkehr von der Wartburg, wo der Herzog gewisse Aeußerungen von ihm über eine dem Himmel trotzende Wasserblase auf sich hatte beziehen müssen, dann besonders wieder 1532, wo Georg eine große Zahl evangelisch gesinnter Einwohner auswies und wegen Briefen, die L. an diese richtete, ihn bei seinem Kurfürsten als Aufwiegler verklagte. Gleich nach Georgs Tod nun führte sein Bruder Heinrich 1539 den evangelischen Gottesdienst ein und L. selbst predigte an Pfingsten in Leipzig. – Der Kaiser ließ sich endlich herbei eine Uebereinkunft mit den Protestanten zu genehmigen, wornach fromme Männer von beiden Theilen zu Eintrachtsverhandlungen zusammentreten sollten. So wurde im Juni 1540 ein Religionsgespräch in Hagenau veranstaltet, zu welchem Melanchthon entsandt wurde, während L. mit seinem Kurfürsten nach Eisenach zu reisen hatte, um daselbst Nachrichten von dort abzuwarten. Während in Hagenau noch nichts erreicht wurde, schien eine Fortsetzung der Verhandlungen in Regensburg während des Reichstags 1541 zu unerwartet glücklichen Ergebnissen zu führen: wesentlich evangelische Sätze über die Sünde und die Aneignung des Heils durch den Glauben drangen in der Conferenz durch. L. selbst freilich wollte den angenommenen Formeln noch nicht trauen. Alles aber zerschlug sich wieder, als man auf die Hauptpunkte des katholischen Kirchenthums und Priesterthums, vor Allem auf die Messe kam. – Mit dem vornehmsten deutschen Kirchenfürsten, Cardinal Erzbischof Albrecht, der trotz seiner Angriffe sich doch noch in möglichstem Frieden mit ihm klüglich zu erhalten suchte und anfangs wol daran gedacht hatte, bei einer möglichen kirchlichen Reform des Reiches sich eine erste Stelle darin zu wahren, hatte der Reformator seit 1538 scharf und für immer gebrochen. Albrecht hatte nämlich seinen früheren Günstling Hans Schöniz, der ihm besonders bei bedenklichen Geldgeschäften behilflich gewesen war, 1535 ohne ordentliche Untersuchung und Verhandlung hängen lassen: er wollte ihn dem Unwillen seiner Stände opfern, die ihm keine neuen Steuern mehr bewilligen wollten, und mit dem Todten wol manches gefährliche Geheimniß begraben. Vergebens protestirten die Mitbürger und Verwandten des Getödteten. Da nahm L. desselben sich an und erließ endlich 1538 die heftigsten öffentlichen Erklärungen gegen Albrecht. Dieser schwieg darauf. 1541 aber mußte der Erzbischof seiner vormaligen Residenzstadt Halle, um von ihr in seinen selbstverschuldeten ökonomischen Nöthen wieder Geld zu bekommen, die Berufung eines evangelischen Geistlichen durch den Magistrat zugestehen. Luther’s intimer Freund Justus Jonas wurde berufen und von ihm das städtische Kirchenwesen reformirt. – Im folgenden Jahr wurde gar der Bischofsstuhl von Naumburg mit einem Protestanten und zwar mit Luther’s Freund Amsdorf besetzt. Es geschah durch den sächsischen Kurfürsten, der als Landesherr Anspruch darauf machte, daß das Domkapitel bei der Bischofswahl nach seinen Wünschen sich richte und, als dieses daran sich nicht kehrte, den Bischof ernannte. L. selbst ertheilte diesem am 20. Januar 1542 gemeinsam [688] mit ein paar evangelischen Superintendenten die Weihe und rechtfertigte das Verfahren in einer Schrift: so wurde auch bei einer Aufnahme des Episkopats in die evangelische Kirche die sogenannte apostolische Succession mit einer nur durch Bischöfe sich fortpflanzenden Handauflegung keineswegs für nöthig erachtet; wol aber wurde die anwesende Gemeinde aufgefordert ihre Zustimmung zu dem Akt durch ein lautes Amen zu bezeugen. – Gegen den eifrig katholischen, übrigens wegen unsittlichen Lebenwandels berüchtigten Herzog Heinrich von Braunschweig hatte in einem erbitterten Streit zwischen ihm und den Häuptern des schmalkaldischen Bundes 1541 auch L. das Wort genommen mit einer seiner gröbsten Streitschriften „Wider Hans Worst“. 1542 wurde dann, nachdem der Herzog wegen eines Angriffs auf die Stadt Goslar in offenen Krieg mit jenen gerathen und darin unterlegen und seines Landes verlustig gegangen war, die Reformation durch die Sieger auch auf dieses Land ausgedehnt. Drei Jahre nachher erlebte L. noch, daß Heinrich bei einem Versuch, das Land wieder einzunehmen, in die Gefangenschaft der Verbündeten fiel; er warnte dann, dieses Hauptwerkzeug der Papisten wieder frei zu lassen. – Der wichtigste Fortschritt schien endlich für den Protestantismus im Kurfürstenthum und Erzbisthum Köln sich zu vollziehen, wo Erzbischof Hermann selbst Reformen nach Butzer’s und Melanchthon’s Rathschlägen unternahm. L. wurde nicht direct hierbei betheiligt, ließ aber seinen Freund Melanchthon mit warmen Wünschen und Hoffnungen 1543 dorthin ziehen. – Der Kaiser selbst erzeigte sich auf einem Reichstag in Speier 1544 friedlich, ja freundlich, wie nie zuvor. Als daraus der Papst über seine Nachgiebigkeit ihm in einem Schreiben, das an die Oeffentlichkeit kam, Vorwürfe machte, brach L. gegen diesen noch mit einer Hauptschrift „Wider das Papstthum zu Rom vom Teufel gestiftet“ los. – So weit man noch Aussichten auf eine kirchliche Einigung oder wenigstens andauernden Frieden zwischen den verschiedenen Confessionen in Deutschland hegen konnte, hatten dieselben ihren Höhepunkt erreicht, während gerade jetzt der Kaiser in der Stille sich zu einem endlichen Schlag rüstete. Wir finden jedoch damals so wenig als früher, daß in L. solche Hoffnungen sich geregt hätten; es waren vielmehr gesteigerte Kämpfe und schwere Heimsuchungen Deutschlands, denen er entgegen sah.

Dazu brach eben jetzt Luther’s alter Groll gegen den Zwinglianismus wieder neu los und zerriß jenes Band des Friedens, das mit den evangelischen Schweizern geknüpft worden war. Fortgesetzte Aeußerungen aus ihrer Mitte überzeugten ihn, daß sie ihrem Meister Zwingli und seinen Irrthümern so gut wie früher ergeben seien. Er hörte von weiterem Umsichgreifen der Irrlehre. Verdächtig wurden ihm auch die aufs Sacrament bezüglichen Sätze des von Butzer und Melanchthon verfaßten Kölner Reformationsentwurfs. So sagte er denn gegen Ende des Jahres 1544 in seinem „Kurzen Bekenntniß des Sacraments“ sich mit den schärfsten verdammenden Worten von jenen seelenmörderischen „Sacramentsschwärmern“ los. Er blieb so bis zu seinem Ende von ihnen geschieden, ließ auch eine Entgegnung der Züricher unerwidert. Später wollte zwar der Theologe Hardenberg aus Melanchthon’s Mund eine Aeußerung gehört haben, in welcher L. diesem gegenüber unmittelbar vor seiner letzten Reise nach Eisleben noch bekannt haben sollte, in jenem Streit doch zu weit gegangen zu sein; aber nach sicheren Aeußerungen, die wir in Briefen und Predigten von ihm aus jenen Tagen noch besitzen, kann er jene nicht so gethan haben.

Auch diejenige größte Gefahr sah L. schon herannahen, welche dem Protestantismus im Deutschen Reich aus der Entzweiung seiner eigenen sächsischen Häupter, nämlich des Kurfürsten und des Herzogs Moritz, erwuchs; er erkannte in diesem den kräftigen, rücksichtslosen, klugen Rivalen des Kurfürsten. Als zwischen Beiden schon 1542 wegen der Oberhoheit über das Städtchen Wurzen [689] eine Fehde auszubrechen im Begriff war, trat er noch mit den schärfsten Mahnungen und Warnungen ins Mittel.

Was die inneren Ordnungen und Zustände der eigenen Kirche anbelangt, so war L. besonders noch bei der ersten Errichtung eines Consistoriums 1539, dem zunächst die Ehesachen und ferner die kirchliche Disciplin zufallen sollten, wenigstens mit seinem Rathe betheiligt, ohne selbst ein festes Amt in der kirchlichen Verwaltung oder Rechtspflege zu übernehmen. Eine Herstellung gemeindlicher Zucht nach den Weisungen des Evangeliums und apostolischen Vorbildern fand er unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich; doch gefiel ihm der Versuch, welchen damit eine hessische Presbyterialordnung vom Jahre 1539 machte, und die Zucht der böhmischen Brüdergemeinden. Die Stellung der evangelischen Kirche unter den weltlichen Obrigkeiten, Fürsten und Höfen wurde für ihn oft Anlaß schmerzlicher Klagen, besonders mit Bezug auf die weltlichen Herren des Herzogthums Sachsen, doch auch bezüglich der Umgebung und des Verhaltens seines eigenen treu gesinnten Landesherrn. Er sah, daß der Satan an die Stelle der früheren Vermengung von Geistlichem und Weltlichem jetzt eine andere umgekehrter Art anstifte.

Für die christliche Lehre und Predigt blieb ihm stets das Wort von der Gnade Gottes in Christo, welche den an sie Glaubenden selig mache, Hauptsache und Mittelpunkt; diese Rechtfertigung durch den Glauben war ihm der Artikel, mit welchem die Kirche stehe oder falle. Eben hiermit aber hielt er stets streng auf den Ernst des göttlichen Gesetzes, welchen der Sünder im Gewissen fühlen müsse, um in rechtem Glauben der Gnade immer wieder sich zuzuwenden. Darüber brach der Streit mit Agricola, dessen abweichende Lehren wir oben schon zu erwähnen hatten, erst recht aus, als dieser 1537 durch Luther’s freundschaftliche Verwendung eine Professur in Wittenberg erhalten hatte. Nachdem Agricola wiederholt nachgegeben und dann aufs neue sich erhoben hatte, folgte er 1540 einem Ruf nach Berlin, leistete übrigens von dort aus noch förmlichen Widerruf. L. äußerte gegen den früheren Freund jetzt heftigen Widerwillen, hatte jedoch darin, daß bei ihm Eitelkeit eine Hauptrolle spiele, nicht unrecht. Auch nach anderen Seiten hin regten sich bei Freunden und Schülern Luther’s im Stillen schon gewisse dogmatische Differenzen, welche nach seinem Tod zu so heftigen Händeln geführt haben. Am wichtigsten war, daß sogar sein Freund Melanchthon, der anfangs völlig ihm gefolgt war, bei der weiteren Entwicklung seines eigenen theologischen Denkens in bedeutsamen Punkten eine von der seinigen abweichende Richtung einschlug. Er glaubte beim Wirken der göttlichen Gnade doch mehr Betheiligung des eigenen Willens annehmen, für die Erlangung der Seligkeit dem eigenen sittlichen Verhalten und Wirken der durch Gottes Gnade erlösten Christen mehr Bedeutung beilegen zu müssen. Für die Aussagen über die Gegenwart des Leibes Christi bei den äußeren Elementen des Abendmahls zog er, so viel an ihm war, wenigstens eine mildere und unbestimmtere Fassung der von L. geforderten vor. Dabei sah er sich von einzelnen Eiferern für die reine Lehre schon damals mißtrauisch beobachtet, war auch seinem großen Freunde selbst gegenüber oft ängstlich und gedrückt, fürchtete namentlich bei Luther’s Unwillen über jenen Kölner Entwurf auch für sich das schlimmste. Aber ihm gegenüber hat dieser solche Befürchtungen nie gerechtfertigt. Nirgends hören wir von L. Aeußerungen des Mißtrauens oder Unwillens gegen ihn, weder im Verkehr mit ihm selbst noch anderen gegenüber. Melanchthon’s dogmatisches Hauptwerk, die loci, hat L., obgleich die spätere Bearbeitung desselben deutlich jene Eigenthümlichkeiten trug, stets aufs höchste gelobt und mehr als seine eigenen Bücher zum Studium empfohlen.

Was L. in der eigenen Kirche am bittersten beklagte, war der Mangel an [690] sittlichen Früchten, wie sie aus dem Glauben ans Evangelium und aus dem Dank gegen die reichlich erfahrene Gottesgnade hervorgehen sollten. Er fand die sittlichen Zustände nicht etwa schlechter als innerhalb des alten Kirchenthums, noch wagten die Altgläubigen selbst so etwas zu behaupten. Wol aber urtheilte er über jenen Mangel um so schärfer, je mehr eben die Evangelischen mit dem Lichte des Evangeliums von Gott bevorzugt seien. Da rügte er die Gleichgültigkeit, mit der man dieses anhöre, den Geiz, mit welchem man gegen die Bedürfnisse der Kirche und die Anforderungen christlicher Bruderliebe das Ohr verschließe, die Habsucht, durch welche gar die Güter der Kirche vielfach geplündert und verschleudert werden, ferner grob fleischliche Laster, besonders die den Deutschen eigene Trunksucht. Er scheute bei solchen Vorwürfen die Glieder keines Standes, namentlich auch nicht die hoch und höchst Stehenden. Ein schreiendes Aergerniß, bei dem noch dazu der Reformator selbst zu einem unseligen Rathschlag sich verleiten ließ, gab 1540 der Ehehandel Philipps von Hessen. Dieser war unglücklich verheirathet, hatte schon seit Jahren auch außerhalb der Ehe Befriedigung gesucht, war darüber im eigenen Gewissen längst unruhig, ohne eine beichtväterliche Beschwichtigung, wie sie hohen katholischen Herren so leicht zu theil wurde, in seiner Kirche zu finden, hatte endlich Liebe zu einem Hoffräulein gefaßt, die nur in der Ehe ihm zu eigen werden wollte, und begehrte jetzt wirklich mit ihr eine zweite Ehe zu schließen, indem er auf die Vorgänge bei den frommen alttestamentlichen Patriarchen und anderen alttestamentlichen Gottesmännern sich berief. L., welchen er deshalb durch Butzer anging, hielt ihm zwar vor, daß nach der göttlichen Ordnung die Ehe Monogamie sei, daß er ferner sein eigen Fleisch zähmen müsse, meinte aber den dringenden Klagen Philipps gegenüber doch eine Dispensation jener Ordnung für schwere Nothfälle auch jetzt noch wie bei jenen Frommen des Alten Bundes zugeben zu müssen: eine Ansicht, die wesentlich mit der damals allgemein angenommenen Gleichstellung des ganzen sittlichen Standpunkts des Alten mit dem des Neuen Bundes zusammenhing. Nur darauf bestand er wenigstens, daß Philipp sein Gutachten wie einen geheimen Beichtrath behandeln müsse und seine neue Ehe nicht öffentlich werden lassen dürfe. Dieser ließ sich wirklich am 4. März 1540 trauen. Die Sache wurde bald ruchbar und machte großen Skandal. Melanchthon, welchen Philipp sogar zur Trauung beizuziehen gewußt hatte, erkrankte unter der Bekümmerniß, die er jetzt darüber empfand, auf der Reise zu dem oben erwähnten Hagenauer Convent in Weimar bis auf den Tod; dort wurde L. schnell noch zu ihm gerufen und richtete ihn mit Zuspruch und Gebet wieder auf. – Steten Unwillen erregten dem Reformator die sittlichen Mißstände, die er in seinem Wittenberg vor sich sah, die übrigens vor denen anderer deutscher Bürgerschaften und Universitäten jener Zeit nichts voraus hatten: Trinkgelage, Mißachtung des Gottesdienstes, Duldung weiblichen Gesindels zum Verderben der Studenten, wucherisches Handeltreiben etc. Als L. im Sommer 1545, um von neuen Steinschmerzen und von anderen Leiden sich zu erholen und gelegentlich an kirchlichen Geschäften auswärts theilzunehmen, eine Reise nach Leipzig, Zeitz, Merseburg machte, empfand und äußerte er unterwegs einen solchen Widerwillen nach jener schlimmen Stadt zurückzukehren, daß die Universität und der Magistrat Gesandte an ihn schickten, um ihn zu beschwichtigen; sein Unwille hatte dann polizeiliche Maßregeln gegen die Gegenstände seiner Beschwerden zur Folge.

Von Luther’s akademischen Vorlesungen sind uns vermöge ihrer speciellen Beziehung auf die evangelischen Grundlehren jene über den Galaterbrief, die er dann 1535 herausgab, noch besonders wichtig. Nachdem er eine Vorlesung über das 1. Buch Mose durch eine Reihe von Jahren fortgeführt und endlich im November 1545 zum Schluß gebracht hatte, fühlte er sich zu schwach, um weiter [691] auf dem Katheder zu wirken, wovon ihn auch der Kurfürst schon früher dispensirt hatte.

Die 1534 fertig gewordene Bibelübersetzung arbeitete er seit 1539 sehr sorgfältig mit dem Beirath befreundeter Gelehrter vollständig aufs neue durch.

Die Thätigkeit auf der Kanzel setzte er bis an sein Ende eifrig fort, übernahm auch wiederholt die Stellvertretung Bugenhagen’s, als dieser wieder auf längere Zeit weggerufen wurde, war aber jetzt durch seine Gesundheit auch oft behindert. Als er so in den Jahren 1532–34 von der Kanzel zurückgehalten war, hielt er zu Haus seiner Familie und dem Gesinde Predigten, aus welchen später durch Freundeshand seine Hauspostille hervorgegangen ist.

Schon seit langen Jahren klagte L. mehr und mehr, daß er sich von Arbeiten, Kämpfen und Krankheitsanfällen erschöpft fühle, ein Greis geworden sei und nichts Tüchtiges mehr leisten könne. Damit hing unverkennbar auch eine gesteigerte Reizbarkeit bei ihm zusammen. Jeder neuen Ausgabe und neuem Kampf gegenüber raffte er sich aber mit der alten Energie auf. Bei allen Gefahren und Aussichten in die Zukunft zeigte er das alte, ruhige, sichere Gottvertrauen. Sein Wünschen und Sehnen war ganz darauf gerichtet, daß er möglichst bald aus dieser argen Welt abscheiden dürfte und für die Christenheit und Welt endlich jener Tag des Herrn anbräche.

Im Herbst 1545 ging er trotz Müdigkeit und leiblicher Beschwerden doch noch mit treuer Bereitwilligkeit auf eine Bitte der Grafen von Mansfeld ein, daß er einen Streit, der über ihre Besitzungen und Rechte sich zwischen ihnen erhoben hatte, schlichten möge: galt es doch seinem „Vaterland“ und seinen „lieben Landesherrn“. Im October machte er deshalb eine Reise ins Mansfeld’sche, die jedoch vergeblich war, weil die Grafen zum braunschweigischen Feldzug wegeilten. An Weihnachten wiederholte er die Reise trotz grimmiger Kälte mit Melanchthon, kehrte jedoch aus Sorge für die Gesundheit dieses Freundes zurück, ehe er den Handel erledigen konnte. Nachdem er am 23. Januar 1546 wieder von Wittenberg nach Eisleben abgegangen war, gelang ihm eine glückliche Vermittlung durch einen Vertrag, der am 16. und 17. Februar zum Abschluß kam. So wollte er denn, wie er sagte, nach Wittenberg heim fahren und sich in den Sarg legen. Aber noch am Abend des 17. bekam er einen neuen Krankheitsanfall mit Beengungen der Brust. Er befahl seine Seele dem Gotte, der ihn erlöst und zu dessen Sohn er sich bekannt habe, während der Papst diesen schände und verfolge. So starb er in der Frühe des 18. Februar. Seine Leiche wurde am 22. in der Wittenberger Schloßkirche bestattet.

Von Luther’s Schriften begann 1539 eine Gesammtausgabe in Wittenberg durch ihn selbst und mithelfende Freunde; bei seinen Lebzeiten erschienen jedoch nur ein erster Band der deutschen und ebenso der lateinischen Schriften. Von seinen zahlreichen Predigten und seinen Vorlesungen über biblische, besonders alttestamentliche Bücher ist ein sehr großer Theil nur durch Freunde herausgegeben worden. Den sogenannten Tischreden Luther’s liegen zuverlässige und werthvolle Aufzeichnungen von Freunden zu Grunde; sie sind nicht mit gleicher Zuverlässigkeit, vielmehr mit bedauerlichen Aenderungen durch die alten Herausgeber, vor Allem Johann Aurifaber, publicirt worden; neuerdings sind solche Aufzeichnungen von der Hand des Wittenberger Diakonus Lauterbach durch Seidemann (Lauterb. Tagebuch, 1872) publicirt, weitere Aufzeichnungen von Lauterbach und von Veit Dietrich und Mathesius durch ebendenselben festgestellt und für den Druck vorbereitet worden, und ähnliche Aufzeichnungen des Cordatus (Tagebuch, 1884) gibt gegenwärtig Wrampelmeyer heraus. – Auf die erste noch sehr unvollständige Wittenberger Gesammtausgabe der Schriften folgte eine in Jena 1555 ff., eine in Altenburg 1661 ff., eine [692] in Leipzig 1729 ff., eine zu Halle durch Walch 1740 ff. Die drei letztgenannten geben nur deutsche Schriften, beziehungsweis Uebersetzungen der lateinischen. Die Walch’sche ist die vollständigste, enthält auch viele werthvolle andere Schriftstücke, aber sie ist unzuverlässig, auf Herstellung des ursprünglichen Textes ist durchaus nicht die erforderliche Sorgfalt verwandt, die Uebersetzung der lateinischen Schriften ist schlecht und fehlerhaft, viele und zum Theil wichtige Stücke fehlen doch auch hier noch. Endlich hat die seit 1826 in Erlangen und Frankfurt erschienene Ausgabe auch wieder die lateinischen Schriften in ihrer Ursprache aufgenommen; die Wiedergabe des Textes ist jedoch auch hier in kritischer Beziehung größtentheils noch sehr mangelhaft (erst die letzten Bände der lateinischen Schriften und die bis jetzt 22 Bände umfassende 2. Auflage der deutschen befleißigt sich einer richtigen Behandlung); die Ausgabe der lateinischen Schriften ist wegen schlechten Absatzes unvollendet geblieben. – Für die Briefe ist zu nennen: die Sammlung „Briefe, Sendschreiben und Bedenken“ von de Wette und Seidemann 1825 ff., dazu Nachträge in Seidemann’s Lutherbriefen 1859, ferner Burkhardt, Luther’s Briefwechsel, 1866; Kolde, Analecta Lutherana 1883.

Eine erste Biographie Luther’s hat, nachdem Melanchthon nur eine kurze Lebensskizze und Charakteristik gegeben hatte, Mathesius in Predigten 1565 veröffentlicht. Aus dem vorigen Jahrhundert ist besonders F. S. Keil, Luther’s merkwürdige Lebensumstände 1746, anzuführen. In der neueren Zeit hat „Meurer, Luther’s Leben“ (3. Aufl. 1870) durch Schöpfen aus Luther’s eigenen Schriften vor Anderen sich ausgezeichnet. Eine auf sicherer historischer Untersuchung ruhende umfassende Biographie ist bis auf unsere Zeit nicht erschienen. Begonnen hat damit K. Jürgens (Luther’s Leben, 1846, 3 Bde.), ist jedoch mit großer Breite und Mangel an Schärfe nur bis zum J. 1517 vorgedrungen. Eine alles bisher vorliegende Material zusammenfassende und wissenschaftlich prüfende Biographie ist zum ersten Mal in dem Werke des Unterzeichneten, „Martin Luther, sein Leben und seine Schriften“, 2 Bde., 1875 (2. u. 3. Aufl. 1883), versucht worden. Eine nicht blos kürzere, sondern mehr nur die Hauptmomente ins Licht hebende und hierdurch einheitlichere und durchsichtigere Darstellung erstrebt „Luther’s Leben von J. Köstlin, mit authentischen Illustrationen“, 1882 (2. u. 3. Aufl. 1883); eine zusammenfassende Charakteristik seiner Person u. seines Wirkens die von ebendemselben verfaßte Festschrift der histor. Commission der Provinz Sachsen, „Martin Luther, der deutsche Reformator, 1883“. Selbständig ist ferner Luther’s Leben jetzt aus den Quellen bearbeitet worden durch G. Plitt in „D. M. Luther’s Leben u. Wirken – geschildert von Plitt u. Petersen“, 1. u. 2. Aufl. 1883 (Plitt’s Arbeit reicht jedoch hierin nur bis 1525), und ganz besonders gegenwärtig in „M. Luther, eine Biographie von Th. Kolde“ (1. Lieferung 1884); gleichzeitig in Frankreich von Félix Kuhn (Paris, T. I, 1883). Eine Aufführung der weniger selbständigen, wenn auch durch Darstellung sich auszeichnenden biographischen Publikationen des Lutherjahres 1883 würde zu weit führen. – Eine massenhafte Litteratur über Luther bis 1851 hat zusammengestellt Vogel, Bibliotheca biographica Lutherana, 1851. Für neuere Litteratur kann auf die Anmerkungen am Schluß des erwähnten Werkes „Martin Luther, sein Leben etc.“ verwiesen werden.