Selbst ihre ärgsten Kritiker können ihren Diagnosen nicht widersprechen. Dass ihr jetzt mitten im Wahlkampf ein Ausschlussverfahren droht, ist bezeichnend für die Linke
Je stärker die soziale Ungleichheit in Deutschland zunimmt, umso schwächer wird Die Linke. Und das, obwohl das Programm zur Bundestagswahl in weiten Teilen eine Politik im Interesse des unteren Bevölkerungsdrittels vorschlägt: Vermögenssteuer, bundesweiter Mietendeckel, höherer Mindestlohn, sanktionsfreie Mindestsicherung. In den Umfragen liegt die Partei zwischen sechs und sieben Prozent, Tendenz sinkend. Offenbar fehlt es an Glaubwürdigkeit. 2009 hatte es noch für 11,9 Prozent gereicht. Seitdem ist die Gemengelage komplizierter geworden. Und doch lässt sie sich auf diese eine Formel bringen: Die Parteilinken und ihre einstige Klientel haben jeden Bezug zueinander verloren.
Das ist auch eine Kernthese im Buch Die Selbstgerechten von Sahra Wagenk
von Sahra Wagenknecht, der außerparteilich populärsten und innerparteilich umstrittensten Linken. Selbst ihre ärgsten Gegner können der Diagnose nicht widersprechen, wonach die traditionelle Arbeiterschaft und Erwerbslose sich von der Linkspartei kaum mehr vertreten fühlen. Dass nun einige Mitglieder anonym und mitten im Wahlkampf ein Ausschlussverfahren gegen Wagenknecht angestrengt haben und die Landessschiedskommission der NRW-Linken den Antrag nicht als unbegründet abgelehnt hat, sagt viel aus über die Verhältnisse.Bereits im Februar wurden bei der Wahl zum Bundesvorstand alle Unterstützer des Wagenknecht-Kurses durch Bewegungslinke ersetzt. Diese Strömung möchte aus der Partei ein sozialverträgliches Korrektiv der Grünen machen und gibt sich mit der Rolle als kleiner Partner einer grün-rot-roten Bundesregierung zufrieden, anstatt um die Stimmen der Protest- und Nichtwähler zu werben. Die Vorstandswahl wirkte wie eine letzte Warnung: „Passt euch uns an, oder ihr fliegt raus!“ Dabei blieb außer Acht, wie sehr Wagenknechts Popularität gerade darin gründet, dass sie keine Parteisoldatin ist.Das Verfahren wird wohl scheitern, doch es ist ein Signal. Ein gewichtiger Teil der Linken möchte eine homogene Linkspartei für „woke Akademiker in Innenstädten“, wie der freiwillig aus dem Bundestag scheidende Fabio De Masi zuletzt schrieb. Die Parteiführung lehnt den Ausschlussantrag offiziell ab, schweigt aber ansonsten zu dem Vorgang. Zu allem Überfluss wirken die inzwischen ritualisierten Rufe der Oberen nach einer womöglich fruchtbaren Verbindung von Klassen- und Identitätspolitik von Monat zu Monat verzweifelter.Der Linkspartei könnte die Demütigung ihrer Galionsfigur teuer zu stehen kommen. Was, wenn Wagenknecht und ihre Unterstützer nach dem Motto verfahren: „Falls ihr uns nicht wollt, machen wir unser eigenes Ding“? Die von Wagenknecht mitinitiierte Sammlungsbewegung „Aufstehen“ ist ja nicht an mangelndem Zuspruch gescheitert, sondern am Zaudern und an der grotesken Unfähigkeit zu Struktur und Strategie.Mit offenem Visier eine linkspopuläre Partei zu gründen, könnte sich als riskanter Befreiungsschlag erweisen. Die Gefahr läge darin, dass die linken Kräfte einander weiterhin leidenschaftlich bekämpfen, anstatt verstärkt die gemeinsamen Gegner zu attackieren. Die Chance aber läge darin, dass Protest- und Nichtwähler endlich wieder eine politische Vertretung finden könnten. Im Idealfall stünde am Ende sogar eine neue linke Hegemonie, die den Streithähnen ein breiter getragenes rotes Regierungsbündnis gegen Schwarz-Grün aufzwingen würde.