Die neue belgische Regierung stellt Strukturreformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum ihres Programms. So nötig diese wären, so heftig droht das Sperrfeuer der Gegner zu werden.
Die neue Regierung habe sich «für Strukturreformen statt für geringfügige Basteleien» entschieden, lobt Pieter Timmermans, der CEO des belgischen Unternehmerverbandes VEB. Von einem «ungerechten Koalitionsabkommen» sprach hingegen in einem Zeitungsinterview Marc Goblet, der Generalsekretär der Gewerkschaft FGTB. Die neue belgische Regierung unter dem frankofonen Premierminister Charles Michel, die an diesem Samstag vereidigt wird, spaltet schon vor ihrem Amtsantritt die Gemüter. Im Gegensatz zu den bisher üblichen breiten Koalitionen stammen alle beteiligten Parteien, die Neu-Flämische Allianz (N-VA), die Christlichdemokraten und die Liberalen auf flämischer Seite sowie Michels Liberale auf frankofoner Seite, aus dem Mitte-Rechts-Spektrum. Finanzminister wird Johann Van Overtfeldt , der derzeit für die N-VA im EU-Parlament sitzt und zuvor unter anderem Chefredaktor des Wirtschaftsmagazins «Trends» war.
Dass sich die vier Parteien wirtschaftspolitisch vergleichsweise nahe sind, ermöglichte ihnen die Verständigung auf einige Strukturreformen, die bisher nicht oder nur zaghaft vorangekommen sind. Ein erster Pfeiler des Koalitionsabkommens zielt auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Belgien gehört zu den Staaten mit den höchsten Arbeitskosten in der EU (vgl. Grafik), und ein kompliziertes System der automatischen Lohnindexierung erodiert die Wettbewerbsfähigkeit. Denn es führt dazu, dass die Löhne und Sozialleistungen mindestens so stark, aber oft stärker steigen als die Konsumentenpreise (ohne Alkohol, Tabak und Treibstoffe). Im Ergebnis sind die Gehälter über Jahre stärker gestiegen als in den Nachbarländern, was hierzulande als «Lohn-Handicap» bezeichnet wird. Die Koalition hat sich nun zum Ziel gesetzt, vor Ende der Legislaturperiode mindestens das seit 1996 kumulierte «Handicap» wettzumachen. Dazu sollen die automatischen Lohnerhöhungen 2015 und 2016 ausgesetzt bzw. gebremst und die Sozialabgaben reduziert werden. Zudem ist eine Reform des Indexierungssystems geplant.
Den zweiten Kernbereich bildet eine Rentenreform. Zu ihren Elementen zählt die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 66 Jahre 2025 und auf 67 Jahre 2030. Bereits ab 2017 verschärft werden sollen die Bedingungen für die grassierenden Frühpensionierungen. Den dritten Kernbereich bilden die öffentlichen Finanzen. Während die Details für den Haushalt 2015 noch nicht bekannt sind, hat Michel angekündigt, den Staatshaushalt bis 2018 strukturell (unter Ausschluss von Konjunktureinflüssen) ins Gleichgewicht zu bringen. Das ist zwei Jahre später als bisher geplant. Der Ausgleich soll vor allem durch Ausgabensenkungen erfolgen. Angepeilt wird eine Verschiebung der Steuerlast: Die bisher sehr stark besteuerte Arbeit soll entlastet werden, hingegen wird unter anderem eine Erhöhung der Abgaben auf Tabak und Diesel angepeilt. Belgien hatte 2013 ein Staatsdefizit von 2,9% des Bruttoinlandprodukts (BIP) und dürfte auch dieses Jahr unter der EU-Limite von 3% bleiben. Doch die Staatsverschuldung ist mit 104,5% des BIP per Ende 2013 erdrückend hoch. Zu ihrem Abbau soll nun auch der Verkauf der staatlichen Beteiligungen an Unternehmen (z. B. an BNP Paribas und Belgacom) geprüft werden.
Diese und weitere Vorhaben zielen in die richtige Richtung, will Belgien die verkrusteten, ineffizienten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft verbessern. Manches, darunter die Sanierung der Finanzen, wirkt nicht allzu ehrgeizig. Dennoch könnte es für die Regierung schwierig werden, das Programm umzusetzen. Im strukturschwachen Süden des Landes, der französischsprachigen Wallonie, ist sie schwach abgestützt. Als einzige frankofone Partei sitzen die dortigen Liberalen in der Regierung, die nur einen Wähleranteil von etwa einem Viertel haben. Auch ist die NV-A wegen ihrer separatistischen Neigungen im Süden ein rotes Tuch. Scharfe Kritik kommt nicht nur von den oppositionellen Sozialisten, sondern auch von den Gewerkschaften, die in Belgien eine starke Stellung haben und vor Streiks nicht zurückschrecken.
Vor diesem Hintergrund ist das böse Wort von der «Kamikaze-Koalition» zu hören, auch wenn die Medien das Bündnis inzwischen mehrheitlich als «schwedische Koalition» bezeichnen (in Anspielung auf die Parteifarben und, mit Blick auf die Christlichdemokraten, das Kreuz in der schwedischen Flagge).